Allerliebste Schwester
früher aufgefallen ist. Die Gewichtszunahme, die volleren Brüste, die ausbleibende Regel, die allerdings nach der Geburt von Lukas ohnehin nicht mehr in ihrem Rhythmus war. Tobias - bis jetzt ahnungslos, er freut sich darüber, dass seine Frau mittlerweile so viel gesünder aussieht. Gesünder. Ja, das ist sie, in jedem Fall gesünder als unter der Behandlung ihres Schwiegervaters, bis unter die Haarwurzeln
vollgepumpt mit Psychopharmaka. Wie ein dümpelnder, halb toter Fisch war sie, gefangen in einem Aquarium ohne Sauerstoff, zu schwach, um nach Luft zu schnappen oder sich von sich aus zu bewegen. Nun ist Eva bewusst geworden, was sie mit ihr angestellt haben.
Seit sie die Medikamente nicht mehr nimmt, wartet Eva täglich darauf, dass Marlene zu ihr zurückkehrt. Diese Halluzination, diese Wahnvorstellung, die sie bekämpfen sollten. Aber ihre Schwester kommt nicht mehr. Ich bleibe stumm und sage nicht, warum. Eva versucht, sich daran zu erinnern, ich welchem Gedicht sie diese Zeile einmal gelesen hat. Und war es nicht von Karl Kraus? Und hat Marlene nichts mehr zu sagen? Oder will sie nicht? Dabei hat ihr Schwiegervater Eva immer wieder eingeschärft, wie wichtig die Medizin sei, weil ohne sie ein Rückfall drohe. Doch sie fällt nicht zurück, alles ist fast normal, bis auf die unerwartete Schwangerschaft, von der außer ihr niemand etwas weiß.
»Worüber grübelst du nach?« Tobias blickt von seiner Zeitung auf. Es ist Sonntagmorgen, sie frühstücken zusammen, danach wird er in die Agentur fahren. Wochenendschicht, die vierte in Folge, er kann seinen Fisch im sauerstoffarmen Aquarium bedenkenlos allein zu Hause lassen, es tut nicht mehr not, dass der Sonntag nur ihnen allein gehört.
»Über gar nichts«, erwidert Eva.
»Du sahst so nachdenklich aus.«
»Ich habe nur überlegt, was ich heute machen könnte.
Vielleicht rufe ich Gabriele an und frage sie, ob sie Lust hat, ins Kino zu gehen.«
»Gute Idee. Ich würde ja mitkommen, aber der neue Kunde …«
»Kein Problem«, unterbricht Eva. »Wahrscheinlich gehen wir sowieso in einen Mädchenfilm.« Sie lacht ihn an.
»Papa wollte heute Abend kurz nach dir sehen.« Eva nickt. Rolf, der in regelmäßigen Abständen immer mal wieder »nach dem Rechten« schaut. Selbst der Herr Obermediziner hat bisher nicht bemerkt, dass sie in anderen Umständen ist. In jeder Beziehung in anderen Umständen. Sie schmunzelt. »Was ist so lustig?«
»Nichts.« Er nimmt ihre Hand und drückt sie.
Sie könnte in Sachen Marlene auch einfach mal fragen, wenn der Schwiegervater heute zur Privatvisite kommt. Ach, Rolf, sag mal: Ich bin schwanger, weißt du, und schlucke deshalb die Medikamente nicht mehr, habe aber trotzdem keine Halluzinationen. Können das die Hormone sein? Ich meine, wenn sie mich nach der Geburt von Lukas krank gemacht haben, dann macht die Schwangerschaft mich vielleicht wieder gesund, was meinst du? Und wo wir gerade beim Thema sind: Wie ist das, wenn man nicht genau weiß, wer der Vater seines Kindes ist, weil es zwei mögliche Kandidaten gibt? Trägt man dann erst einmal beide in die Geburtsurkunde ein und streicht später, wenn es einen Gentest gab, den einen wieder weg? Sag mal, du bist doch Arzt und müsstest das wissen.
Natürlich wird sie ihn nicht fragen. Weil es egal ist, weil es in ihrem Herzen sowieso nur einen möglichen Vater gibt, und der heißt garantiert nicht Tobias. Und
weil sie überhaupt nicht mehr hier sein wird, wenn Rolf sie heute Abend besuchen kommt. Eva blickt zu Tobias, der mit einer Hand die Zeitung hält, in die er jetzt wieder vertieft ist, mit der anderen führt er seine Kaffeetasse zum Mund und nimmt einen Schluck. Die Sache ist beschlossen. Sobald er zur Arbeit fährt, wird sie gehen. Sie streicht über die kleine Bauchwölbung, die für sie bereits deutlich fühlbar ist. Denkt: Mich selbst hätte ich vielleicht nicht gerettet. Aber für dich muss ich es tun.
Nur die nötigsten Dinge hat Eva eingepackt, als sie zwei Stunden später im Mini langsam aus der Ausfahrt rollt. Ein kleiner Koffer mit drei Paar Hosen, T-Shirts, Pullovern, Unterwäsche und Socken, Waschtasche, Evas Noten und fünf Kopien ihrer CD liegt auf der Rückbank. So wenig wie möglich will sie mitnehmen, keine unnötigen Erinnerungen. Sie war schon einmal mit so gut wie gar nichts auf und davon, aber diesmal hat sie immerhin ein Auto, den geliebten Mini ihrer Schwester wollte sie nicht zurücklassen. Das Buch, das Simon ihr geschenkt hat, auch das
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