Allerliebste Schwester
hätte sie gern mitgenommen, aber ihr Mann wird es weggeworfen haben. Ihren Ehering hat Eva auf das Sideboard in der Küche gelegt, Tobias wird ihn sicher bald finden, wenn er aus der Agentur nach Hause kommt.
Erst als sie die Hafencity erreicht, bemerkt sie eine flatternde Nervosität. Über zwei Monate ist es her, dass Eva zum letzten Mal hier war. Dass sie Simon gesehen oder mit ihm gesprochen hat. Sie parkt das Auto hinter
einer Baustelleneinfahrt, bleibt einen Moment regungslos im Wagen sitzen. Wie leicht hat sie sich das nur vorgestellt? Einfach Dingdong, hier bin ich, Überraschung! Als sie losfuhr, schien ihr das keine größere Sache zu sein. Sie hat Tobias immerhin verlassen, hat den Ring zu Hause hingelegt, einen deutlichen Schlussstrich unter alles gezogen. Und Simon sagte doch, dass er sie liebt, das tat er, an dem Abend in der Wohnung in der Wrangelstraße. Doch jetzt, als sie kurz davor ist, ihn nach dieser letzten Begegnung wiederzusehen, spürt Eva Angst. Angst, dass sich das geändert haben könnte, dass Tobias mit einem einzigen Anruf Simons Gefühle für sie womöglich in Schutt und Asche gelegt hat. Der Vertrauensbruch, vielleicht war er doch zu groß, um darüber hinwegzusehen.
Eva steigt aus, geht ein paar Schritte auf das Gebäude zu, hält nach wenigen Metern inne, zögert, will wieder umkehren, nimmt dann aber doch allen Mut zusammen und marschiert weiter Richtung Hauseingang. Halb fürchtet sie, dass er an diesem Sonntag nicht zu Hause ist. Noch größer ist die Furcht davor, dass er ihr gleich, nachdem sie geklingelt hat, öffnen wird. Wieder ihr Spiegelbild in der gläsernen Tür. Sie wünscht, es wäre Marlene, die ihr sagen könnte, was sie tun soll. Aber ihre Schwester hilft ihr nicht mehr; Eva muss es allein entscheiden. Sie drückt auf den Knopf, neben dem Simons Name steht. Eine Ewigkeit passiert nichts, sie will schon umkehren, da knackt die Gegensprechanlage. Heiß, ganz heiß wird ihr, als sie seine Stimme hört.
»Hallo?«
»Ich bin’s, Eva.« Der Türsummer erklingt augenblicklich. Als hätte er schon auf sie gewartet, darauf, dass sie ihn noch einmal aufsucht.
Diesmal trägt er schwarze Jeans und ein schwarzes T-Shirt. Ein größerer Kontrast im Vergleich zu ihrem ersten Besuch in seinem Loft ist nicht denkbar. Er lächelt nicht, nickt ihr nur stumm zu, als sie aus dem Aufzug tritt, begrüßt sie mit einem knappen »Hallo«, zwischen seinen Augen wieder die steile Falte, die Eva schon ein paarmal aufgefallen ist. Sie folgt ihm in die Wohnung, er schließt die Tür und steht dann einfach nur so da vor ihr. Abwartend. Ohne ihr anzubieten, die Jacke abzulegen.
»Hallo«, sagt sie leise. Es fällt ihr schwer, ihn anzusehen. Und noch schwerer fällt es ihr, ihn nicht zu berühren, ihn nicht zu küssen, seine Nähe und sein Geruch reichen aus, um in ihr sofort wieder dieses seltsam vertraute Gefühl zu wecken. Unwillkürlich legt Eva eine Hand auf ihren Bauch, dann hebt sie den Kopf, sucht eine Verbindung zu ihm, zu seinen blassblauen Augen - aber bei ihm kann sie nichts mehr von dieser Nähe entdecken. Mit einem Mal kommt es ihr wirklich lächerlich vor, dass sie ohne jede Ankündigung zu ihm gefahren ist. Was wird er von ihr denken?
»Wie geht es deinem Mann?«, fragt er und betont das Wort »Mann« auf eine Art und Weise, die Eva schnell begreifen lässt, was er denkt. Nichts Gutes, so viel ist klar.
»Simon.« Sie räuspert sich. »Ich hätte dir die Wahrheit sagen sollen.«
»Das hättest du.«
»Ich konnte es nicht.«
»Kannst du dir vorstellen?«, fragt er jetzt und bleibt dabei weiter ganz ruhig, »wie ich mich gefühlt habe, als ich deinen Mann auf der Mailbox hatte?« Er schüttelt den Kopf, die Erinnerung daran, sie scheint ihn immer noch fassungslos zu machen.
»Ich …« Simon unterbricht sie.
»Du stehst ihm also nicht sonderlich nahe, dem Mann deiner Schwester, ja? Na, immerhin so nahe, dass du nichts Besseres zu tun hattest, als ihn nach Marlenes Tod zu heiraten. Das ist doch nicht normal!« Sie blickt zu Boden. Jetzt kann sie ihn nicht mehr ansehen, jetzt nicht mehr. So wie Simon es ausspricht, klingt es tatsächlich nicht normal. Sondern unmöglich, pervers. An die Stelle der eigenen Schwester zu treten, deren Leben weiterzuführen. Was für Eva noch bis vor Kurzem logisch schien, die einzig mögliche Konsequenz nach allem, was passiert war, der einzige Weg, um zu überleben - jetzt kann sie sich selbst nicht mehr erklären, warum sie es getan
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