Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Allerliebste Schwester

Titel: Allerliebste Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wiebke Lorenz
Vom Netzwerk:
nicht geahnt, gewusst hat sie es.
    »Und dann?«
    »Hinterher tat es ihr leid. Als sie ging, sagte sie, dass wir uns nicht wiedersehen dürften und ich nicht mehr in den Buchladen kommen sollte. Daran habe ich mich gehalten, so schwer es mir auch fiel.« Wieder hört er auf zu erzählen, aber das ist ja noch nicht die ganze Geschichte,
nein, das Wichtigste muss noch kommen. »Ein paar Wochen später tauchte Marlene plötzlich wieder bei mir auf, mitten in der Nacht hat sie mich aus dem Bett geklingelt. Zuerst verstand ich gar nicht, was sie wollte, sie war total aufgelöst, konnte kaum sprechen, ich musste sie erst einmal beruhigen.«
    »Die Nacht, in der sie sich umgebracht hat?« Langsam nickt er.
    »Sie hat gesagt, dass ihre Ehe kaputt wäre. Aus und vorbei. Sie sei gerade von ihrem Mann weggerannt, zu Fuß von zu Hause losgelaufen, um zu mir zu kommen.« Das Rauschen in Evas Kopf, es wird immer lauter. Von Tobias weggerannt. Wie? Wann? Während er doch bereits friedlich geschlafen und nicht bemerkt haben will, wie Marlene sich aus dem Haus stahl, zur U-Bahn ging und sich dort das Leben nahm?
    »Warum? Warum meinte sie, dass ihre Ehe zu Ende sei?«
    »Den Grund hat sie nicht gesagt, sie war einfach völlig außer sich. Sie meinte, sie würde es mir irgendwann erzählen, für den Moment wolle sie nur bei mir sein, mit mir zusammen noch einmal ganz von vorn anfangen.«
    »Und du?«, fragt sie ihn. Sie will ihm ihre Hand entziehen, aber er hält sie fest. »Was hast du getan?«
    »Ich fühlte mich total überrumpelt, das musst du verstehen! Damit hatte ich ja nicht gerechnet, noch dazu mitten in der Nacht, aus dem Schlaf gerissen.« Wie eine Anklage klingt sie nun, diese Rechtfertigung. »Nach nur einer einzigen Nacht hat sie verlangt, dass
ich mich für sie entscheide, mein ganzes Leben umwerfe. Und ich war damals gerade erst am Anfang, hatte Tage zuvor den Job in Chicago angeboten bekommen, da hätte ich Marlene ja nicht mitnehmen können.« Nicht mitnehmen wollen, das ist die Wahrheit. Simons Finger umklammern Evas Hand wie ein Schraubstock, halten sich an ihr fest wie an einem Rettungsseil. »Ich habe versucht, es Marlene zu erklären. Dass ich Zeit brauche und so etwas nicht mal eben so entscheiden kann. Und dass sie sich auch Zeit nehmen müsse, um über ihren Entschluss nachzudenken. Aber sie hörte mir gar nicht zu, wurde immer hysterischer, bis sie dann schließlich weggelaufen ist.«
    »Bist du ihr nach?« Er zögert. »Hast du nicht versucht, sie aufzuhalten?«
    »Nein.«
    Sie befreit ihre Hand aus seiner, schwingt die Beine aus dem Bett, macht sich daran, ihre Kleidung zusammenzuraffen und sich anzuziehen. Hört nur noch mit halbem Ohr zu, wie Simon, der hilflos auf dem Bett kauert, mit seiner Erzählung fortfährt. Wie er ein paar Wochen später, kurz vor seiner Abreise nach Chicago, noch einmal in den Buchladen ging, um nach Marlene zu sehen und sich von ihr zu verabschieden. Dass er schockiert war zu hören, was passiert war, ausgerechnet in der Nacht, als Marlene bei ihm war. Dass er sich Vorwürfe machte, ganz schreckliche Vorwürfe, sich geschämt hat, bis heute tut er das. Dann, als Eva fertig angezogen ist, sich zum Gehen wendet, springt er auf, tritt hinter sie, schlingt beide Arme um sie, drückt sie an sich.

    »Bitte, geh nicht«, flüstert er. »Wir beide können es doch schaffen.«
    »Was können wir schaffen?«, fragt sie und schließt die Augen, in der Hoffnung, dass er etwas sagen wird, das sie zum Bleiben bewegen könnte, etwas, das es ihr ermöglicht, nicht zu gehen.
    »Ja«, setzt er an, »ich war fassungslos, als ich erfuhr, dass du mit Tobias verheiratet bist. Aber letztlich ist es egal, das habe ich schon gewusst, als du vorhin aus dem Aufzug kamst, obwohl ich einen Moment gebraucht habe, das zu begreifen.« Er seufzt. »Glaubst du nicht auch, dass das Schicksal uns eine zweite Chance geben will?« Eva lacht. Dreht sich in seinen Armen zu ihm um, berührt sein Gesicht, saugt noch einmal ganz tief seinen Geruch ein, stellt sich auf die Zehenspitzen, um ihn zu küssen. Sie versucht zu lächeln, aber es gelingt ihr nicht: »Nein. Wir können unsere Fehler aneinander nicht wiedergutmachen.«
     
    Zwei Stunden später ist sie kurz hinter Hannover. Aus den Lautsprechern erklingen ihre eigenen Lieder. Eva singt laut mit, lässt ihre Finger über das Lenkrad tanzen. München, hat sie sich überlegt, das andere Ende der Republik, erscheint ihr als Ziel überaus passend. Mit jedem Kilometer,

Weitere Kostenlose Bücher