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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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für ungültig erklärte, so daß sie nie stattgefunden hatten? Spinnweben, nichts, Augenblicke, die sich selbst verschlungen hatten, die zur fahlen Erinnerung werden mußten, etwas Eigenartiges, das ihm mit einer Frau widerfahren war, die einmal zu spät nach einer Zeitung gegriffen hatte, die sich als Weltmeisterin im Abschiednehmen bezeichnet und ihn schon längst vergessen hatte, die nicht wußte und der es auch gleichgültig war, daß er hier wie der Dorftrottel auf das Standbild von Tirso de Molina schaute, zwischen ein paar stockbetrunkenen Pennern, die, Literflaschen mit lauwarmem Bier in der schmutzigschwarzen Hand, aufeinanderhingen, die neuen Wilden der Großstadt, nichtssehende Augen unter großen Büscheln verfilztem Haar, seine Gesellschaft, murrend, schimpfend, um eine Zigarette bettelnd. Plötzlich kamen diese Männer und diese eine Frau mit dem orangegefärbten Haar, die jetzt lallend aufstand, den Rock hob und einem der Männer eine unglaublich dreckige Hose zeigte, ihm vor wie ein Kommentar auf seine so tapfer angetretene Mission, wie Hohn, weil er hier absolut nichts verloren hatte, weil er etwas, aber was sollte das sein, durch seine Anwesenheit verleugnete. Jemand, er nannte ihren Namen nicht einmal vor sich selbst, hatte ihn aus der Ruhe seiner langen Trauer in eine demütigende Unruhe gestoßen. Wie führte man das zu Ende, wenn es keine Geschichte war und kein Film? Warum hatte sie Arno die Adresse ihrer Großmutter geschickt, warum schien die Großmutter ihn zu erwarten? Er mußte es wissen, dann konnte er es ausixen, durchstreichen, wegfahren, hinein in das große, leere, brennende Land, befreit, sich selbst zurückgegeben, die Kamera neben sich im Auto.
    Taxi, Serrano, Geschäfte, Mode, makellose Männer und Frauen in Schaufenstern, die Arme leicht gehoben, ein zur Unbeweglichkeit verdammtes Dasein. So gehörte es sich, Distanz, immer neue Kleider, keine Gespräche, keine Narben, keine Trauer, keine Lust.
    Das Archivo Histórico Nacional war geschlossen und würde, es sei denn die Welt ging unter, am nächsten Morgen wieder geöffnet sein. Er ließ das Taxi wegfahren und ging die lange Straße in umgekehrter Richtung hinunter, wobei er auf die Füße der Passanten schaute, den wachen Schritt nach erfolgter Siesta, Füße, die irgendwo hingingen, zum zweitenmal an diesem Tag geboren. Es gab einen Satz, der ihn einmal derart frappiert hatte, daß er ihn nie mehr hatte vergessen können: »Lisette Model put her camera at nearly groundlevel to achieve a worm’s-eye view of pedestrians.« Die Welt von unten, die unterste Welt, all diese Riesengestalten, die die Stadt beherrschten, die oben gingen, weil das ihr Terrain war, in dem sie sich mit der größten Sicherheit bewegten. Und zwischen all diesen Riesen die Riesin, die er morgen finden mußte, daran gab es keinen Zweifel mehr.
    Als er in das Hotel zurückkam, war es von Horden von Kindern überströmt, die schreiend durch die Flure rannten, zwischen all den tobenden Zwergen kam sein eigener Körper ihm wieder fremd vor, trotz seiner Größe schienen sie ihn nicht zu bemerken, bis spät in den Abend hinein würde das Gejage durch die Flure andauern, er schlief unruhig, erwachte mitten in der Nacht schwitzend aus einem Traum, an den er sich nicht mehr erinnerte. Sein Leben rannte an ihm vorbei, er konnte es nicht mehr aufhalten.
    Die Hitze des Tages hängt noch in dem kahlen Zimmer, er öffnet die Balkontüren, die zu keinem richtigen Balkon führen, sondern zu einer Balustrade, an der er sich festhalten kann. Noch immer Verkehr, das wird auch in dieser Nacht nicht aufhören.
    Er schaltet den kleinen Fernseher ein, der oben in einer Zimmerecke hängt und fransige Schwarzweißbilder von Menschen zeigt, die sich küssen und, angesichts ihrer Kleider, schon mindestens zwanzig Jahre tot sein müssen. Den Ton hat er nicht eingeschaltet, und als er wach wird, sieht er Fragmente der Frühnachrichten, den befreiten Gefangenen der fünfhundert Tage, der ins Licht blickt, als sähe er die Welt zum erstenmal, Augen, deren Pupillen durch eine riesige Brille in seinem weißen, eingefallenen Gesicht vergrößert werden. Er schaltet das Bild aus, kann es noch nicht ertragen, dies ist noch nicht die Stunde für Dämonen. Er spürt, daß es jetzt kühler im Zimmer ist, die Kühle des frühen Morgens, der von der Hochebene aus in die Stadt gezogen ist. Während er an der Balustrade steht, sieht er die geflügelten Pferde sich auf dem Dach des

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