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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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sein Pech auch noch amüsant zu finden schien.
    »Jetzt hast du endlich Zeit zum Nachdenken, aber das machst du natürlich nicht. König Ungeduld. Meditation, das ist nicht gerade eine Stärke von Männern. Was machst du?«
    »Ich filme Kiefernzapfen.«
    Zwei Tage später war das Auto endlich fertig, die Amazone stürmte die Pyrenäen hinauf, als wisse sie, daß sie etwas gutzumachen habe. Auf der anderen Seite war alles anders, das große Land breitete sich vor ihm aus, flimmerte in der maßlosen Hitze, zwang ihn zur Langsamkeit. Die maschinengewehrartigen Klänge des Kastilischen fegten die letzten Reste des Französischen weg, dies hier war die ältere, die grausamere, die von der Geschichte vollbeschriebene Erde, und wie immer verspürte er Ausgelassenheit und Beklemmung. Hier war nichts unverbindlich, jedenfalls nicht für ihn, die Landschaften legten sich ihm um die Schultern, was in den Zeitungen stand, forderte ihn. Man wurde hineingesogen, ob man wollte oder nicht. Was irgendwo anders ein Zweiparteiensystem war, wurde hier ein Kampf mit Gift, Lügen, Meineiden, Verdächtigungen, Skandalen. Zeitungen gingen sich gegenseitig an die Gurgel, Richter waren parteiisch, Geld floß durch unterirdische Kanäle, und zugleich war alles Theater, Opera buffa, Chefredakteure, die man in Damenunterwäsche gefilmt hatte, der Staat als gescheiterter Kidnapper, Minister, die verurteilt wurden, aber nie sitzen würden, Grand guignol, etwas, was immer dazugehört hatte, eine Sucht, von der man sich nur mit Mühe freimachen konnte, obwohl jeder genug davon hatte.
    Die wirklichen Probleme lagen woanders, bei einer kleinen Gruppe verbissener Mörder, die das Alltagsleben mit ihren Bombenanschlägen, ihren Genickschüssen, ihren von Haß besessenen Anhängern, mit Erpressung beherrschte, eine Todesschwadron, die nicht eher lockerlassen würde, als bis Angst das Land wie ein Schimmelpilz überwuchert hatte, und selbst dann noch nicht. Er las die Namen der neuen Opfer, hörte, während er über einsame Straßen fuhr, die gehetzten Stimmen von Nachrichtensprechern und Kommentatoren und fragte sich, ob er deshalb sein Tempo verringerte, manchmal das Auto am Straßenrand abstellte und ein Stück weit in das leere, schuldlose Land hineinlief, um zu filmen und Tonaufnahmen zu machen. Trockenheit, Verlassenheit, das Geraschel von Disteln, die vom Wind berührt wurden, ein Traktor in der Ferne, das Rufen einer Schleiereule. Abends stieg er in kleinen Hotels an der Straße ab und sah mit den anderen Gästen fern, Demonstrationen für einen Mann, der schon seit mehr als fünfhundert Tagen in einem Verlies gefangengehalten wurde, Gegendemonstrationen von maskierten, Steine und Molotowcocktails werfenden Horden. Kein Land, dachte er, konnte so viel Haß und Blut wert sein. Eines Abends wurde die Bilanz des Jahres bis zu diesem Zeitpunkt gezeigt, Leichen, ausgebrannte Autowracks, die auf eine perverse Weise mitunter mehr über den orgiastischen Zerstörungstrieb aussagten als die albern verbogenen, hilflosen, auseinandergezogenen Formen menschlicher Körper.
    Wie lang war es jetzt her, dieses Gespräch mit Elik am Tegeler Fließ, eine Ewigkeit, drei Monate? Was hatte sie gesagt? »Versuch’s doch mal von der komischen Seite zu sehen.« Er hatte sie damals nicht verstanden und verstand sie auch jetzt wieder nicht, und anscheinend war er nicht der einzige. Der Fernseher stand in der halbdunklen Eingangshalle des kleinen Hotels, rosa Fleisch, rotes Blut wurde auf die Mattscheibe gemalt, doch das Schlimmste war das Geräusch, Steinwände, Steinfußböden, keine Tapeten, kein Teppichboden, die harten Klänge der Worte wurden durch den Stein verschärft, Schallen war noch das beste Wort, um die mechanische Komponente dieser Stimmen zu beschreiben, die Flüche und Seufzer der anderen Gäste vermischten sich damit, umringt von einem unsichtbaren Chor saß er in dieser Halle und dachte an die Antwort, die sie gegeben hatte, als er sagte, er verstehe sie nicht. »Hilft es dir weiter, wenn du sagst, daß es tragisch ist?« und: »In zweihundert Jahren, wenn die Gefühle daraus verschwunden sind, bleiben nur noch die Idiotie übrig, die Ansprüche, die Beweggründe, die Rechtfertigungen.«
    Das stimmte, wollte er ihr jetzt sagen, doch was half es, das zu wissen? Das machte es doch nur noch schlimmer. Nicht genug damit, daß jetzt gelitten werden mußte, dieses Leiden würde eines Tages auch nichts mehr bedeuten. Das Maß des Lebens waren nun mal nicht ihre

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