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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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Kuppel der Kathedrale. Der Doncel, warum nicht?
    »Klassische Verzögerung.« Das war Ernas Stimme. Er wurde ausgelacht, und zu Recht. Jetzt wurde dieses ganze Hirngespinst Wirklichkeit. Natürlich würde er sie finden. Unter all den Millionen Spaniern würde er sie finden, keine Frage. Aber dann?
    In der Kathedrale war es dämmrig, seltsamerweise mußte man ein paar Stufen hinuntergehen, um sie betreten zu können, als wäre das riesige Gebäude zu schwer für den Untergrund und dadurch bereits zur Hälfte in der Erde versunken. Eine Art Messe war gerade im Gang, Chorherren in Rot und Schwarz saßen in ihrem hohen Gestühl und ließen ihre halb gesungenen Psalmverse im hohl klingenden Raum hin und her schallen. Er schaute einen Augenblick lang auf die weißen Gesichter, auf die Münder, die Worte formten, ohne daß die Augen darüber sie abzulesen brauchten. Es war alles bekannt, war so alt wie der Stein der Gräber in den Wänden, und zu einem dieser Gräber ging er jetzt. Der junge Mann hatte sich nicht bewegt, Arthur sah, daß er nicht einen Zug im Gesicht dieses Schildknappen von Isabel la Católica vergessen hatte. Er lag da, auf den Ellbogen gestützt, und hatte keine einzige Seite seines Buches umgeblättert, nun schon fünfhundert Jahre lang nicht. Gefallen bei der Belagerung Granadas, 1486. Als Kriegsopfer konnte man so jemanden nicht bezeichnen, und dieser Körper konnte nie so ausgesehen haben wie die Leichen, für die nie ein anderes Denkmal errichtet werden würde als das graue Eintagspapier, auf dem sie abgebildet waren, niemand würde sie in fünfhundert Jahren noch betrachten, und nie würden sie diesen fast verstörten, für die Welt verlorenen Blick haben. Dieser Junge hatte seinen Tod schon längst vergessen, er lag da wie der Acker bei Lübars, eine Figur, die uns an irgend etwas erinnern soll, selbst aber nicht mehr weiß, woran.
    Als er aus der Kathedrale trat, wurde er vom Licht geblendet. Wenn sein Hirngespinst Wirklichkeit würde, war es die Frage, ob sie dieses Licht ertragen konnte. Er fuhr in einem unsinnigen Bogen um Madrid herum (»Klassische Verzögerung«), Alcalá de Henares, Aranjuez, und rollte zur heißesten Stunde des Tages durch die Puerta de Toledo in die Stadt hinein. Das Hotel lag genau gegenüber vom Bahnhof Atocha, die Autos hinter ihm begannen sofort zu hupen, als er anhielt, um die Kamera und andere Sachen auszuladen, das Stakkatogeschrei von Autos, die von der Sirene eines Rettungswagens aufgescheucht wurden, wurde zu einem Aspekt der Hitze, die wie eine Form von Gewalt über dem Platz lag.
    Er gab seine Sachen ab und rannte zurück, um das Auto zu parken. Als er zurückging, sah er, daß es 39 Grad waren. Sein Zimmer lag an der Vorderseite und hatte keine Klimaanlage; wenn er die Balkontüren öffnete, konnte man den Krach nicht aushalten. Er setzte sich auf die Bettkante und sah sich die Karte von Madrid an. Bahngleise kamen von Süden her und endeten in Atocha, dem Bahnhof, den er von seinem Fenster aus sehen konnte. Schräg dazu lag das schiefe Rechteck des Retiro-Parks und darin das Blau des Teichs. Ohne sie zu sehen, sah er die Ruderboote, die man dort mieten konnte. An der linken oberen Ecke des Parks lag die Plaza de la Independencia, auf die die Calle de Serrano mündete. Dort also, aber jetzt noch nicht.
    Den Rest des Tages verbrachte er ziellos umherstreifend im Labyrinth der Altstadt. Bei einer Telefonzelle versuchte er erst Zenobia anzurufen, dann Erna, aber keine von beiden war zu Hause. Er hinterließ keine Nachricht. Was für eine hätte es auch schon sein sollen? Ich bin am Ende eines Spaziergangs angelangt, den ich eines Tages im Schnee in Berlin begonnen habe und der hier, in diesen Straßen, wo ich fast schneeblind vom Licht werde, wie auch immer enden muß. Überall an den Kiosken und auf den Kneipentischen hingen und lagen Ausgaben von El País , die Schlagzeile mit der Nachricht wieder eines Anschlags schien auch ihn jetzt aufzuscheuchen, etwas, dachte er, lief gründlich falsch, er mußte sich beruhigen, konnte es aber nicht, er mußte sich selbst vorsagen, was er hier vorhatte, und wenn er das nicht konnte, mußte er sein Auto aus der Parkgarage holen und wegfahren, bloß wohin? Amsterdam? Berlin? Nein, er mußte etwas wissen, er mußte wissen, ob er sie suchen sollte oder nicht, er mußte wissen, was diese Weigerung, dieses wortlose Verschwinden für ihn bedeutete, ob es ein Urteil war, das ihn abschaffte, das die wenigen rätselhaften Nächte

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