Alles auf Anfang: Roman (German Edition)
ein Wort des Grußes schiebt sich Oma Käthe an ihren Söhnen Rudi und Otto vorbei, wie ein Raupenfahrzeug mit Schaufeln voller Fragen, Problemen und Stellungnahmen, lässt Lotte und Frank links und rechts stehen wie Zinnsoldaten, pflanzt sich mitten in der Küche auf, steckt sich eine Zigarette an, pafft wie eine Dampfmaschine, die auf Hochtouren läuft, und stemmt die Hände in die Hüften. »Na, ist es wieder passiert? Dieses Ding mit Ottilie?« Ihr Busen bebt, ihre grauen Augen blitzen. Um sie herum wabert Zigarettenqualm.
Das ist der Moment, den Lotte gefürchtet hat, der über den Verlauf ihres Geburtstages bestimmt. Ein falsches Wort, das als Angriff gewertet werden könnte, und der Teufel in Gestalt von Oma Käthe ist los. Dann vergisst sie ihre gestandenen fünfundfünfzig Jahre, dass sie seit zwanzig Jahren ohne Mann ist, ihren Hass auf die Russen, und dass sie unter Gibbus leidet, also einen ansehnlichen Buckel hat.
Es geht um das Wohl von Ottilie und da ist Oma Käthe nicht zu bremsen. (Sonst eigentlich auch nicht, aber heute könnte es besonders heftig werden.)
Frank tritt zu ihr hin und drückt die kleine verwachsene Frau an sich. »Schön, dass du da bist, Muttel!« Er benutzt das schlesische Wort für Mutter und wie üblich dringt er damit durch ihren Panzer, er, ihr Lieblingssohn, verlässlicher als ihre Leiblichen Otto und Rudi, attraktiver ohnehin. Ein guter, fleißiger Mann. Und mit ihrer Tochter wird sie noch ein Wörtchen zu reden haben. Und wo bleibt Regina? Lippenstift auftragen unten im Klo? Was glotzt ihr alle so? Steht nicht rum wie die Ölgötzen!
Oma Käthe macht sich von Frank los. Von ihren weißen Wimpern löst sich eine Träne und kullert über die Wange. Ihre Mundwinkel zittern. »Wo ist meine Süße, Frank? Wo ist Ottilie?«
»Sie ist zur Beobachtung im Krankenhaus«, fährt Lotte dazwischen. Sie übersieht die Rührung ihrer Mutter. Davon will sie nichts wissen.
Es sind die kleinen Flirts von Frank, die eine erstaunliche Wirkung auf Oma Käthe haben. Frank hegte schon immer für die resolute Kompaktheit seiner Schwiegermutter so etwas wie Bewunderung und legt mit warmer Herzlichkeit Schicht für Schicht frei, bis er die herbschlesische Zugänglichkeit berührt.
Da ist er weiter als Lotte, die das nicht mehr kann, da sie eine Erinnerung pflegt, die unauslöschlich ist, ein Erlebnis, das einen Keil zwischen Tochter und Mutter getrieben hat, der jede zukünftige Verbindung der Seelen verbietet. Sie hat Frank viel über Oma Käthe erzählt, oh ja! Aber nicht alles. Und dieses alles macht jenen Konflikt aus, den sie seit zwanzig Jahren in sich trägt und von dem Frank nichts ahnt, Gott sei Dank!
»Ottilie geht es gut, Muttel«, sagt sie, obwohl sie ihre Mutter in Gedanken immer Oma Käthe nennt, reserviert, unzugänglich.
Lotte hat sich im Griff. Sie ist eine vollendete Gastgeberin. Sie freut sich, ihre Brüder wieder zu sehen. Piefke Rudi, Otto, Gina und ihre Mutter haben sich die Anreise richtig was kosten lassen. Erst mit dem Zug aus Berlin, wo sie alle in eigenen Wohnungen leben, dann mit einem Taxi. Das kostet was. Damit man pünktlich vor dem Mittagessen da ist. Das honoriert Lotte. Sie hat – wie es sich gehört – gehörig vorgekocht, Schweinebraten, Sauerkraut, mit Speck durchgezogen, Kartoffelklöße, die sie gestern Abend geknetet hat, die jetzt aufgegangen sind, auch der Eierstich für die Vorsuppe steht schon im Kühlschrank.
Es ratschratscht an der Tür.
Lotte geht und kehrt untergehakt mit Regina zurück.
Ottos junge Frau steckt in einer frechen Chanel-Kopie, einem Kostüm, das sie aus einem Burda-Wäscheschnitt gefertigt hat. Ihr Gesicht ist ein einziges großes Oval, die Lippen und Grübchen Herzchen, die Augen oval, tief, nach der neuesten Mode geschminkt, die Nase rundlich, frech aufgeworfen wie bei einer Puppe, die Haare modisch toupiert, glitzernd vor Haarspray, die Gestalt duftend nach Nummer 5.
Neben Regina wirkt Lotte bieder und hausfraulich, vergleicht Frank impulsiv. Gina ist so modern angezogen, so – attraktiv, so deplatziert. Sie sieht aus wie eine Süßigkeit. Eine Kindfrau, weich und fest gleichermaßen, eine die man besser nicht oberflächlich bewertet, wie Frank weiß.
Denn da ist Ginas Geschichte.
Und die hat nichts mit Süßigkeiten, Wohlbefinden und Wärme zu tun, sondern mit einem versoffenen Vater, einer blöden Mutter, einem Kindesmissbrauch, einem erniedrigenden Gerichtsprozess, damals 1957, und dem Ehrgeiz eines schmalen,
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