Alles auf Anfang: Roman (German Edition)
Kein Grund zur Beunruhigung. Man legte eine Akte an. Sie beantworteten drei, vier Fragen, das war’s und auf nach Hause. Ottilie schwieg. Lächelte unglücklich, weinte und schwieg. Frank wurde es zu viel. Er schlug mit der Faust auf den Tisch, seine Augen Tümpel der Verzagtheit. Lotte drückte währenddessen den zitternden Körper ihrer Tochter an sich. Sie alle waren überfordert. Hatten so viel Angst. Dann stritten sie sich. Und Ottilie stand da und starrte ihre zeternden Eltern an. Es war grauenhaft. Beschämend. Da überlebte man Flucht, Krieg, Erniedrigung und Schlimmeres und wusste nicht weiter, wenn die eigene Tochter sich die Arme zerschnitt. Sie waren so hilflos, so unglaublich hilflos. Sie alle, denn nun kam noch Tom dazu und weinte und rotzte und wie von einer Tarantel gestochen drehte Ottilie sich um, riss die Küchentür auf, warf einen dunklen Blick über ihre Schulter und sagte ganz leise: »Schuldig!«
Dann war sie raus ins Kinderzimmer, und Eltern und Bruder starrten ihr hinterher. Hatten sie das Wort richtig verstanden?
Schuldig!
Ja, das hatte sie gesagt. Den Sinn gab Ottilie nicht preis, so sehr sie auch bedrängt wurde.
Auch gestern verschloss sie sich, gestern, als es erneut geschah. Die Wunden, die sie sich zugefügt hatte, waren die schwersten bisher.
Endlich, endlich kam Frank von der Schicht, Lotte war noch eins tiefer am Telefon und Tom passte auf seine Schwester auf. Sie brachten Ottilie ins Krankenhaus. Ein Arzt sprach ausführlich mit ihnen, konnte die familiäre Verdüsterung jedoch nicht erhellen. Sie solle zur Beobachtung in der Klinik bleiben. Montag würde sich ein Psychologe um sie kümmern. Eine Kapazität, der Mann. Dann würde man sehen ...
Später schickten sie Tom ins Bett, und als sie sich alleine wähnten, redeten sie miteinander. Sie fragten sich nach den Gründen, schoben Überlegungen hin und her.
SCHULDIG!
Was hat das zu bedeuten?
Lotte wollte die Geburtstagsfeier absagen. Frank sperrte sich, man könne jetzt sowieso nichts ändern, Trübsal blasen sei sinnlos, und sie stimmte ihm zu. Da merkte sie, dass auch er einen Kummer mit sich trug. Er war keiner der Männer, die ihre Gefühle verbargen, sondern öffnete sich ihr vertrauensvoll. Sie erfuhr von Schotterbein und der Sache mit dem Türken. Franks Streit mit dem Despoten verhieß Schwierigkeiten. Was hatte Frank am Montag zu erwarten?
Sie machten sich ein Bier auf, dann noch eines.
Himmel noch mal, warum kam es Lotte mit einem Mal so vor, als wenn sich der Himmel grau über sie wölbte, als wenn eine Wand mit Problemen vor ihnen aufragte? Konnte man dieses dumpfe Gefühl nicht einfach wegreden, wegtrinken, wegdenken? Nein, sogar Tränen nützten nichts, außer dass sie noch trauriger machten.
War dies das Ende der Träume? Wollte Frank nicht alles tun, Lehrgänge, Fortbildungen, alles! um in ein paar Jahren als Steiger viel mehr Geld mit nach Hause zu bringen? Musste es überhaupt der Pütt sein? Gab es auch andere Möglichkeiten? Mit vierzig ist man noch nicht zu alt für einen neuen Anfang, oder? Hauptsache genug Geld für ein Häuschen im Grünen, draußen am Stadtrand, mit einem Garten und einem kleinen Teich und einer Garage, in der nicht nur Fahrräder, sondern sogar ein Auto stehen würde - ein kleines Auto, man blieb ja auf dem Teppich, nicht wahr? - und jedes Kind hätte sein eigenes Zimmer und alle hätten fließend heißes Wasser und eine helle schöne Badewanne und eine Toilette.
Es zog düster durch ihre Herzen, sie lehnten sich aneinander und dachten daran, was sie schon miteinander durchgemacht hatten. Das und das dritte Bier gaben ihnen Zuversicht.
Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg! Das ist ihr Familienspruch. Die Wahrheit. Sie würden Sieger sein, weil sie immer zusammenhalten, weil sie Freunde sind, durch dick und dünn gehen ...
Die Hoffnung stirbt zuletzt, denkt Lotte und weinte noch etwas, als sie später eng an Frank gedrückt lag.
Jetzt ist Lotte froh, dass Thomas, während sie hier um den Küchentisch sitzen, rauchen, schwatzen, trinken, dass Tom jetzt draußen ist und spielt. Sie ist froh, dass er sie nicht nervös machen kann, dass er nicht zu viel mitbekommt von Dingen, die ihn noch nicht berühren sollten. Insgeheim weiß sie, dass sie sich belügt. Wie soll Thomas, der mit Ottilie in einem gemeinsamen Zimmer schläft – ein Problem, das sie bald lösen müssen, sehr bald! – wie soll der Junge von den Geschehnissen unberührt geblieben sein? Aber sie will ihn in nichts
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