Alles auf Anfang: Roman (German Edition)
geschundenen Mädchen, dass trotz alledem ihr Ziel nicht aus den Augen verliert: Ihr Leben meistern, mittlere Reife, eine Lehre absolvieren, Geld verdienen, auf eigenen Beinen stehen. Mit sechzehn verlässt sie ihre Mutter – der Vater sitzt im Knast – und schafft den Grundstein ihrer Zukunft.
Und so passt sie doch zu ihnen, ist eine Jäckel, intelligent, stark, eine Überlebende.
Die Gesellschaft gruppiert sich um den Küchentisch. Es ist etwas vor zwölf Uhr, Zeit für einen Frühschoppen, einen Willkommensgruß, ein Schnäpschen für die Männer, Steinhäger aus der braunen Flasche, ein Bier oder auch zwei, Käthe trinkt Eckes Edelkirsch , Gina goutiert den Cinzano .
»Also Lotte ...« Käthe wendet sich mit scharfem Blick an ihre Tochter. »Was ist los? Was hast du mir am Telefon verschwiegen?«
Lotte bereut, nicht irgendeine Ausrede für die Abwesenheit ihrer Tochter erfunden zu haben. Gestern, nachdem sie den Schreck überwunden, Ottilies Arme verbunden hatte und ungeduldig auf Frank wartete, rief Oma Käthe an - unten bei Rampfs, die schon ein Telefon haben und von denen man sich für heute vier Stühle geliehen hat -, man holte Lotte dran und Oma Käthe fragte, ob alles in Ordnung sei, als wolle sie einem unerfreulichen Tagtraum nachspüren, hellseherisch, gespenstisch, und Lotte sagte die Wahrheit, war zu verzagt für eine Ausflucht. Allerdings wusste sie da noch nicht, dass man Ottilie im Krankenhaus behalten würde.
»Niemand weiß was Genaues«, sagt Frank. »Zumindest sagt uns keiner was, aber ich glaube, die haben keine Ahnung. Der Arzt meinte, sie leidet unter inneren Spannungen. Dadurch tut sie sich weh. Das machen auch andere Mädchen. Sie zerschneiden sich die Arme, manche drücken Zigaretten auf ihrem Körper aus, andere essen nichts mehr. Scheint nicht ungewöhnlich zu sein.«
»Aha.« Oma Käthe trinkt den dritten Likör. »Das war ja nicht das erste Mal. Woher kommt das? Wer kann mir das erklären?«
Ja, denkt Lotte, wer kann uns das erklären?
»Die süße Kleine ... Wirklich grauenvoll ...«, flüstert Gina und bremst sich, als hätte sie noch einiges zu sagen, als wäre dies nicht der letzte Satz zu diesem Thema.
Otto reicht Gina Feuer und schüttet sich ein Bier ein. An seiner rechten Hand blitzt ein Ring mit einem schwarzen glatten Stein. Er ist ein hagerer hühnerartiger Mann, glatt rasiert, glatthäutig, ähnlich poliert wie seine Mutter unter glatten braunen Haaren, die aussehen wie eine Perücke; sogar seine Kleidung wirkt merkwürdig faltenlos.
Sein sechs Jahre jüngerer Bruder Rudi – der Piefke, wie die Familie ihn nennt - saugt an einer schmalen Don Diego und kippt den Steinhäger , ganz Rock’n’Roller, der er ist, immerhin spielt er seine Elektrogitarre fast so gut wie Chuck Berry und das will was heißen! Wer ihm begegnet, staunt über seine Ähnlichkeit mit dem Schauspieler Horst Buchholz. Allerdings ein Hotte, der es ganz schön hat krachen lassen, denn unter den Augen trägt Rudi Schatten, die von durchzechten Nächten ahnen lassen, seine Haare sind zu lang, um ordentlich zu wirken, Hose und Jackett schmal, der fingerschmale Lederschlips schlampig gebunden.
»Ja, Gina, es ist grauenvoll«, echot Lotte.
»Es gibt einen Grund«, sagt Oma Käthe, die Stimme hart wie Stein, lauernd, als finde sie die Ursache zwischen den Zigarettenschachteln, die auf der Tischdecke verteilt sind, den überquellenden Aschenbechern, zwischen den Bierdeckeln oder überhaupt hier in der Küche. »Es gibt immer einen Grund.«
»Lotte soll Ottilie am Montagmittag nach Hause holen. Wir dürfen sie nicht besuchen, weil am Samstag und Montag ein Seelenklempner mit ihr sprechen wird. Sie soll durch uns nicht abgelenkt werden. Ich finde das zwar ziemlich hart für das Kind ...«, sagt Frank.
Wer kann uns das erklären? Ist Oma Käthes Frage wieder in Lottes Kopf, kreist, dreht sich, hallt wider. WER KANN UNS DAS ERKLÄREN? Wer, um Himmels willen?
Vor sechs Wochen, als es das erste Mal passierte - dem Himmel sei Dank!, benutzte sie keine Rasierklingen, sondern ein halbstumpfes Küchenmesser - versorgten sie ihr danach die Arme mit Jod und Mullbinden. Lotte erinnert sich, wie sie auf das Mädchen eingeredet hatten. Ottilie schwieg. Starrte gleichgültig vor sich hin. Lotte rüttelte ihre Tochter, schrie sie an. Ottilie schwieg.
Vor drei Wochen dann die zweite Selbstverstümmelung. Diesmal brachten sie Ottilie in ein Krankenhaus. Pubertät, meinte der behandelnde Arzt. So was käme vor.
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