Alles auf Anfang: Roman (German Edition)
reinziehen. Das dünne Kerlchen ist sowieso sensibel wie ein Birkenschössling.
Heute soll Thomas ihretwegen das Mittagsessen überspringen, eine Extravaganz, eine Disziplinlosigkeit, die sie sich gönnt. Er wird noch genug schlemmen dürfen. So verdirbt er sich nicht den Magen und wird nicht nervös, wenn er stundenlang mit den Erwachsenen zusammen sein muss. So kann sie sich ganz auf den Besuch konzentrieren.
Die Stimmen um Lotte herum verlieren sich. Oma Käthe, Otto, Piefke, Frank, sie alle ... sind draußen, außerhalb ihrer jähen Teilnahmslosigkeit. Sie sehnt sich nach einem gemütlichen Nachmittag gemeinsam mit Frank und den Kindern. Das wäre das Schönste, ihr allerschönstes Geburtstagsgeschenk, denkt sie melancholisch. Am liebsten würde sie weinen. Aber sie reißt sich zusammen, so wie sie ihre Gefühle immer bezwungen hat, ihr ganzes Leben schon.
Sie kommt wieder in Gang, erwacht. Ist wieder zurück, im Hier und Jetzt ihrer Geburtstagsfeier; sie blinzelt und nimmt alles mit erstaunlicher Klarheit wahr. Durch das Fenster fällt die frühherbstliche Sonne, fällt auf Frank, fängt die Vorgebirge seines Gesichts ein, die hervorstehenden Wangenknochen, die Spitze seines Kinns, die senkrechten Erhebungen über seinen Brauen, die im Licht glühenden Haare. Er ist ein Hüne und neben ihm sieht Käthe Jäckel wie eine pausbäckige Märchenoma aus, rotwangig poliert, fast faltenlos, die grauen Haare korrekt zurückgekämmt, der Dutt im Netz gefangen, die scharfgrauen Augen brillenlos auf Lotte und die anderen gerichtet.
Gina schwenkt ihr Glas, leert es, es ist schon das Vierte. Das stört Lotte, denn die Kleine kann keinen Alkohol vertragen, der Tag ist noch lang. Wenn Gina betrunken ist, zeigen sich die Grenzen ihrer Kompensation, entsteigt dem Bad der Misshandlungen eine stahlharte Frau, dann kann sie streitsüchtig und ungerecht sein.
Gina fragt: »Wann ist Ottilie mit der Schule fertig?«
Frank antwortet: »Im nächsten Jahr geht sie auf Stellensuche.«
»Hat sie einen besonderen Berufswunsch?«
»Nein, aber es gibt genug Arbeit in Deutschland. Wir werden das Richtige für sie finden.«
» Ihr findet das Richtige für sie, aha!« Ginas Stirn legt sich in Falten. »Wisst ihr ... Möglicherweise kann ich ja was für das Mädchen tun. Ich meine ... wenn wir ihr schon die Entscheidung abnehmen ...«
»Du machst mich neugierig«, sagt Otto.
»Lasst euch überraschen.« Gina lächelt geheimnisvoll. Sie nimmt die Zigarette von der Spitze und drückt diese aus. Als sie aufsieht, fühlt sie alle Blicke auf sich gerichtet. »Vermutlich ist alles ganz einfach. Sie fühlt sich nicht mehr wohl hier in Bergborn. In dieser Wohnung. Versteht ihr?«
»Nein«, gab Lotte zurück.
»Vielleicht will sie einfach nicht mehr den Abwasch machen, hier rumputzen, in Eimer pinkeln, Leuten zugucken, die ihre Karnickel schlachten und all das.«
Franks Kiefer mahlen. Seine Brauen ziehen sich zusammen. An seinem Hals zeigen sich rote Flecken. »Harte Worte, Gina. Was willst du damit sagen?«
Gina winkt ab.
Gott sei Dank, denkt Lotte, sucht Gina keinen Streit, sonst hätte sie nicht abgewunken, sondern das Thema bis zum bitteren Ende ausdiskutiert. Sie erinnert sich daran, dass Gina einmal sagte, sie habe niemals klein beigegeben, wenn sie ihrem Lehrer einmal angekündigt hatte, eine Arbeit nicht schreiben zu wollen – im Gegensatz zu den restlichen Schülern der Klasse, die, Konsequenzen fürchtend, großen Plänen schneller untreu wurden, als man eine Papierschwalbe bauen konnte. Es käme nicht unbedingt darauf an, Recht zu haben mit dem, was man tue, sondern es überhaupt zu tun.
Endlich fällt Lotte auf, dass ihr noch niemand gratuliert hat, nicht einer auf ihr Wohl angestoßen hat (abgesehen von Frank und Thomas heute Morgen.) Keine Geschenke sind ausgepackt, keine Blumen überreicht. Alles lagert noch draußen im Flur vor dem großen Wandteppich. Ottilie beherrscht den Tag. Das Mädchen wäre glücklich, wenn sie das wüsste - umgehend schämt Lotte sich für diese Mutmaßung.
»Macht euch ruhig was vor ...«, sagt Gina. »Ich weiß, worüber ich rede. Wenn man sich nicht durchsetzt, unterliegt man.« Ihre Augen sind verhangen, dunkel.
Oma Käthes Wangen verziehen sich und sie entblößt makellose Zähne, so echt wie ihr Buckel, als wolle sie zubeißen, die Argumentation schnappen wie ein Haifisch, ein scharfes Lächeln. »Unsere Regina will sagen, dass meine kleine Ottilie nicht für den Haushalt geschaffen ist,
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