Alles auf Anfang: Roman (German Edition)
räumen sie auf, schaffen Ordnung. Die von den Rampfs geliehenen Küchenstühle wird Lotte morgen nach unten bringen. So ist das vereinbart. Die Arbeit geht zügig von der Hand. Lotte saugt durch die Wohnung, frische Luft weht zum Fenster rein. Sie sind bemüht, den Urzustand ihres Heims wieder herzustellen, denn sie sehnen sich nach einem altgewohnten Status, einer Vertrautheit, die den Rahmen bildet, in dem sie sich bewegen, in dem sie Entscheidungen treffen können.
Danach wird Tom in die Küche gerufen. Wenn er möchte, darf er fernsehen, solange er will, was den Junge begeistert, denn heute Nachmittag laufen die Abenteuer von Rin Tin Tin.
Frank liegt kaum im Bett, das nach Ginas Parfüm riecht, da ist er auch schon eingeschlafen.
Lotte neben ihm weint leise. Sie weint, dass sie nicht mit ihrer Mutter kommunizieren kann, so wie es eine Tochter tun sollte - obwohl sie stundenlang nebeneinander auf einem Sofa geschlafen haben; sie weint um Otto und Gina, in Anbetracht ihrer Enttäuschung über Frank und darüber, dass sie selber bei dem Flaggendiebstahl mitgemacht hat, nicht beherzt genug, diese verheerende Angelegenheit zu verhindern, wofür sie sich schämt und besonders weint sie um Ottilie und sie fürchtet sich. Nicht um ihre Person bangt sie - das hat sie schon lange nicht mehr getan - sondern vor dem Schatten, der sich vor ihrer Familie auftürmt wie ungebetenes Wetter.
Ich bin müde, verkatert und deprimiert!, denkt sie, ... und ich weine viel zu oft! Sie dreht sich von Franks Bieratem weg und kuschelt sich in das Oberbett, das sie morgen neu beziehen wird.
Abends werden sie wach. Frank macht Annäherungsversuche. Lotte wehrt ihn ab. Nein, nicht jetzt. Dafür ist sie zu abgespannt und verstimmt. Frank knurrt und fügt sich.
Sie finden Thomas in der guten Stube. Er schlummert wie ein Kätzchen vor dem Fernseher.
Nach dem schweigsamen Abendessen legen sie sich wieder hin, denn in sechs Stunden ist die Nacht rum. Frank hat Frühschicht. Doch Frank ist hellwach. Als Lotte neben ihm leise schnarcht, schleicht er sich aus dem Schlafzimmer. In der Küche zündet er sich eine Zigarette an und wartet.
Es wird halb elf Uhr, dann elf. Jetzt brennen seine Augen wie Feuer, seine Glieder sind schwer, in seinem Schädel summt es. Es wird Zeit, dass er sich wieder hinlegt, sonst wird er morgen seine Schicht nicht schaffen. Aber er wird vorerst nicht schlafen.
Stattdessen wartet er. Noch eine Zigarette, ein Glas Wasser, eine Zigarette. Halb zwölf.
Er schiebt beide Bündel Flaggen unter den Pullover und schleicht sich raus wie eine hochschwangere Diebin. Es ist still im Haus. Er begegnet keiner Seele. Man ist es gewohnt, dass immer wieder jemand die Treppen runter zur Toilette knarrt.
Heute scheint der Zaun von Lebensfreude Bergborn höher, die Masten steiler zu sein als noch vor Stunden. Frank scheuert sich die Handflächen am Holz wund, ein Fingernagel reißt ein, er schlägt sich das Schienbein an einer Metallaufhängung und ihm bricht der kalte Schweiß aus, als ein Polizeiwagen die Straße rauffährt, lautlos, aber mit Blaulicht. Schon ist der Wagen vorbei. Man ist also nicht hinter ihm her. Hätte ja sein können, oder? Die erste Flagge hängt wieder. Die von Bergborn. Beim Runtergleiten am Holz bleibt sein Hosensaum irgendwo hängen, Stoff ratscht und weiter runter, mit den Handflächen im feuchten Gras abgestützt, zum zweiten Mast rüber und wieder hoch. Wie anstrengend das ist, wenn man kaum geschlafen hat, wenn man nüchtern ist und Schiss hat, erwischt zu werden. Endlich, endlich hängen beiden Flaggen wieder am Fahnenmast und flattern munter im Nachtwind, als wäre nie etwas geschehen. Der dünne Stoff wickelt sich um Franks Kopf, streift seine Wange, bläht sich im Wind. Ein weiterer Polizeikäfer huscht vorbei, dessen blaues Blinklicht an den Häuserwänden reflektiert. Frank kichert überdreht, sein Körper ist von Adrenalin überflutet – eine helle Kraftladung, die ihn an unangenehme Umstände erinnert, die er in Kambodscha erlebt hat – nur so kann er sich wie ein dressierter Schimpanse an der Spitze des Fahnenmastes festhalten, ohne abzustürzen.
Somit hätte dieses Wochenendes gut enden können, wäre nicht der Zufall der gebräuchlichste Deckname für das Schicksal.
Zur gleichen Zeit hört ein junger Redakteur der Rundschau den Polizeifunk ab. Er nennt sich Mike Stern. Durch diese illegale Maßnahme ist er vorwiegend als erster Reporter am Unfall oder Tatort, was sein Arbeitgeber mit
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