Alles auf Anfang: Roman (German Edition)
»He, Filius. Was machst du denn hier? Solltest du nicht im Bett liegen?« Ein flüchtiger Blick zu Mama, die die gleiche Frage gestellt hat und jetzt mit den Achseln zuckt.
»Versuch’s mal mit Tom Sawyer oder Peregrine Pickle. Das wird dir einiges erklären, mein Junge.« Seine halbherzig dahin gesagten Worte entbehren jeder Überzeugung, sein Blick ist fahrig und nervös.
»Das war ganz schön dufte, Papa«, sagt Tom und legt Bewunderung und Aufrichtigkeit in seine Stimme.
Papa richtet sich auf, schüttelt sich wie ein nasser Hund. »Lasst uns verschwinden.« In seiner Stimme schwingt etwas, dass man für Trauer halten kann, eine feine Unzufriedenheit, sozusagen der Tonfall von Uwe oder Micha, wenn diese bei etwas vom Lehrer ertappt werden.
»Jetzt bewundert dich dein Sohn schon für dieses Verbr ... für diesen Unsinn. Schau, was du angerichtet hast«, schnauzt Mama plötzlich los. Sie schimpft mit ihm, wie sie sonst nur mit Tom schimpft oder mit Ottilie. »Seit wann ist dir das Eigentum anderer Menschen nichts mehr wert?«
Papa sieht verdattert drein, als erwache er aus einem Traum. Sein Mund geht auf und zu, ein Auto fährt vorbei, Gina zupft Mama am Arm »Lass gut sein, Lotte.«
Onkel Piefke drängt »Wir müssen weg hier« und Onkel Otto macht sich auf die Socken und wieder fährt ein Auto vorbei, was schon fast verdächtig ist.
Tom hat Mitleid mit Papa. Ist es so anstrengend, Unsinn zu machen, wenn man erst mal alt ist?
Darüber denkt er noch nach, als er weit nach Mitternacht im Bett liegt, als seine Augen brennen und er gähnt und gähnt, als Oskar sich schon längst wieder zu den anderen gesellt hat und sie sich alle für den Rest der Nacht ausgiebig zu berichten haben.
Er erinnert sich an den verdatterten Gesichtsausdruck von Papa, sehr ertappt, sehr verlegen und daran, was Papa nicht gesagt hat. Da fürchtet er sich etwas, denn zu oft hat er ihn Goethe zitieren hören, der gesagt hat, dass alle Schuld sich beizeiten im Leben rächt. Aber vielleicht stimmt das ja auch nicht, immerhin ist der alte Sack ja schon mehr als hundert Jahre tot.
Und was, wenn morgen die ganze Stadt darüber spricht? Was, wenn Herr Knopp seine Schlüsse zieht? Was, wenn die Polizei das Haus durchsucht, den Keller, die Wohnung, den Dachboden, weil die Chefs der Kleingartenanlage eine hohe Belohnung ausgesetzt haben für zwei Flaggen, mit denen niemand was anfangen, die man noch nicht mal aufhängen kann; eine Hausdurchsuchung wie das bei Kalle Blomquist immer ist oder bei Funkstreife ISAR 12 oder bei Stahlnetz , was er zwar nicht gucken darf, aber wo Frauen immer heftig kreischen und man das Tatütata der Polizeiwagen auch im Kinderzimmer hört. Das wird in Bergborn Stadtgespräch Nummer eins sein, darüber mag Tom gar nicht mehr nachdenken, um Himmels willen! Er wird das Gespött der Schule sein, man wird ihm noch öfters die Brille klein hauen und den Kopf in den Sandkasten stecken und die Mädchen werden sich scheckiglachen über den Sohn vom Flaggendieb.
Andererseits hat Papa eine ganz schön gute Figur bei der Sache gemacht, sehr sportlich, fast so jungenhaft wie Onkel Piefke. Und da war Tom ziemlich stolz auf diesen kolossalen Mann, der sich blitzschnell vor Herrn Knopps Taschenlampe in Sicherheit gebracht hat, wie Winnetou oder noch besser, wie Old Shatterhand - lautlos wie ein Schatten.
Da hat er Ottilie ja einiges zu erzählen. Das wird ihr gefallen. Immerhin ist sie ja auch eine, die sich nicht an die Regeln hält, wovon Mama und Papa nichts ahnen, Geheimnisse zwischen Bruder und Schwester, die sein müssen, weil’s ja was geben muss zum Zusammenhalten, zum Raunen und Tuscheln und als Druckmittel gegeneinander, wenn’s mal hart auf hart geht, wenn Streit ist oder so.
Toms Gewissen schlägt Purzelbäume. Was ist mit dem Eigentum anderer Menschen? Hat Mama Recht, wenn sie Papa zur Schnecke macht? Ist Diebstahl schlicht und einfach – Diebstahl? So hat er es gelernt und das wird auch heute Nacht nicht anders geworden sein.
In ein paar Jahren wird Tom die von Papa empfohlenen Bücher lesen und mit aller moralischen Differenzierung resümieren, dass das wahre, das einzig echte Eigentum der Besitz der Persönlichkeit ist. Er wird lernen, dass spontane Gedankenlosigkeit keine Begründung benötigt, dass der Anlass einfach nur eines sein kann – der Spaß am Augenblick.
Jetzt indessen kann er, will er nicht glauben, dass Papa etwas macht, für das er die Verantwortung nicht übernimmt. Er ist verwirrt und da
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