Alles auf Anfang: Roman (German Edition)
beantworte mir nur ein paar Fragen! Wir können ein Interview machen, mein Freund.«
Warum nicht, denkt Frank. Dann schlage ich ihn nieder und nehme ihm den Film ab.
»Na, vielleicht erkennst du dich ja am Dienstag in der Zeitung. Der Geheimnisvolle am Fahnenmast.« Der Mann kichert, seine aufgerauchte Zigarette landet nur Zentimeter vor Franks Nasenspitze. Dann verschwindet der Typ.
Verdreckt, angeschlagen, mit schmerzendem Handballen, zerrissener Hose und gelinder Panik streichen Franks Fingerspitzen zehn Minuten später über den tröstend weichen Wandteppich im Flur, derweil er die Treppe hochschleicht.
An Schlaf ist nicht mehr zu denken.
Er sitzt in der Küche und raucht eine nach der anderen. Endlos scheinende Gedankenketten schlängeln sich um ihn, zerren, würgen an ihm wie hungrige Schlangen. Etliche Mal schwankt er zwischen familienväterlicher Angst - sollte das Foto erscheinen hat er sich und seiner Familie ganz schön was eingebrockt!, - jungenhaftem Amüsement – trotzdem war’s keine üble Aktion, irgendwie!, - und erregender Planung – wie kann ich die Veröffentlichung verhindern, wie?
Verdammt, was er getan hat, ist nicht angemessen für einen Mann seines Alters. Die ganze Situation ist erniedrigend und albern. Unwiderruflich überschreitet er in diesen Morgenstunden die Passage zum Alter. In Zukunft wird er seine Vorhaben bedachtsamer, zaghafter angehen und damit einen erheblichen Teil seiner jungenhaften Spontaneität verlieren.
Er stiehlt sich ins Schlafzimmer und verstellt den Wecker auf sieben Uhr. Heute soll zumindest Lotte ausschlafen. Die Hauptsache ist, sie weckt Thomas pünktlich zum Schulgang.
Frank versorgt sich, kleidet sich um und verlässt um halb fünf Uhr das Haus, todmüde aufgedreht und wie gerädert hellwach, die Buttertasche unter den Arm geklemmt, die Schultern nach vorne geschoben, mit staksenden Schritten weit ausgreifend. Er fragt sich, was die nächste Woche, die so entsetzlich begonnen hat, noch alles für ihn bereithalten wird.
8
Cemir Cülcze hat Heimweh.
Am frühen Sonntagabend beginnt er ein Buch von Nazim Hikmet zu lesen, trinkt Tee, labt sich an seiner Wasserpfeife, genießt die Stille, den süßen Geruch des feinen Haschischs, mit dem er den Tabak aromatisiert, was schon Männergenerationen vor ihm so gemacht haben und knabbert ein paar Zimtkekse, nur unterbrochen durch sein Abendgebet, das er auf einem kleinen Teppich kniend verrichtet. Es ist ein meditativer Sonntagabend, warm und gemütlich durchströmt es ihn wie die Wellen den Ceyhan, sogar sein Zorn auf Steiger Schotterbein ruht.
Cemirs Heimweh resultiert vorwiegend aus den Bedingungen, unter denen er sich hier in Bergborn ein Zimmer mit drei anderen Männern teilt. Hasan, Mahmut und Yamal stören sich nicht an den Umständen. Im Gegenteil: Die Männer fühlen sich wohl, loben die starken Wände, die vor Kälte und Hitze schützen, die Abgeschiedenheit in dieser Ruine, in der nur noch das Untergeschoss von zwei Portugiesen bewohnt wird. Weitere drei Wohnungen stehen leer, da die Wände mit Schimmel übersät sind und der Putz feucht bröckelt. Sie alle schlafen auf Matratzen, aus denen Wolken von Wanzen aufsteigen, wenn man mit der flachen Hand draufschlägt. Das ist besser, sagt Hasan, als die Lehmhütte, in denen ihre Eltern in Hemite leben, besser, sagt Yamal, als die in Stein geschlagenen Höhlen, in denen die jungen Frauen ihre Gemeinschaft halten, ihre Stoffe fertigen, die Pide backen, besser, sagt Mahmut, als der morgendliche Gang zum Brunnen, wo der blökende Esel gestriegelt werden muss, mit dem man dann Brennmaterial zum Markt bringt.
Cemir fragt sich, warum er diese Genügsamkeit nicht findet.
Er raucht. Alsdann kommen die Erinnerungen und seine Gedanken schweifen ab, wehen nach Südosten.
Er kommt aus demselben Dorf wie seine Mitbewohner.
Er hat Aysel, seiner Frau, das Versprechen gegeben, jeden Monat viel Geld nach Hause, nach Hemite, zu schicken, dorthin, wo es so anders ist als hier in Bergborn. Daheim, wo in der Anavarza-Ebene in dem Landstrich Cukurova der Ceyhan fließt, wächst niedriges Röhricht an den Flussufern und mitten im Schilf hüpfen große grüne Frösche, stelzen die Fischreiher umher, mit langen Hälsen und wolkenfarbigem Gefieder. Dort säumen Tamarisken, Weiden, Erlen und Brombeersträucher die Ufer. Wespen, Hornissen, rote und bläuliche, bauen an ihren Waben. Das Röhricht ist ein einziges Surren und Summen.
Das ist das Land, über das der junge
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