Alles auf Anfang: Roman (German Edition)
Yasar Kemal so schöne Bücher geschrieben hat, die Cemir alle gelesen hat.
Und das ist das Land, in dem Cemir im Jahre 1938 irgendwann im November als erster Sohn und viertes Kind seiner Eltern Kemal und Aiche das Licht der Welt erblickte. Der genaue Tag tat nichts zur Sache, denn niemand hatte Muße, auf den Kalender zu gucken. Warum auch? Erster Schnee war in Hemite gefallen, man fror und hatte genug damit zu tun, für seinen Lebensbedarf zu sorgen. Für Kleinigkeiten war da keine Zeit. Cemir folgten im jährlichen Abstand noch zwei Mädchen, die eine wie die andere kurz nach der Geburt starben.
Schon als ganz kleines Kind wollte Cemir gerne in die Schule gehen.
Obwohl der Gründer der Republik Türkei, der große und unsterbliche Kemal Atatürk die Schulpflicht eingeführt hatte, waren Cemirs Träume zum Scheitern verurteilt. Der Staatsmann hatte nicht daran gedacht, dass viele Schulen mehr als zehn oder fünfzehn Kilometer vom Wohnort der Kinder entfernt waren, viel zu weit für einen siebenjährigen Jungen, dessen Vater seinen Sohn bei der Aussaat oder Ernte benötigte. Gewiss, einige reformfreudige Familien waren da stur und ließen ihre Kleinen täglich die zwei Stunden zur und von der Schule auf einem Esel reiten. Sie verzichteten auf deren Hilfe im Tagwerk, da ihnen die Ausbildung ihrer Kinder wichtiger war, zumal wenn es sich um erstgeborene Söhne handelte.
Cemirs Papa Kemal sah das nicht so. Ein Sohn gehört an die Seite des Vaters. Und dabei, Allah will es so!, bleibt es. Daran, wie an allen Entscheidungen von Papa, war nicht zu rütteln. Cemir weinte, bettelte und wehrte sich vergeblich. Er verbarg sein Gesichtchen im schwarzen Schoss seiner Mutter, die in selbstbewussten Minuten versuchte, ihren Mann davon zu überzeugen, dass ein moderner Junge etwas lernen sollte. Sie habe genug mit den drei Töchtern zu tun. Außerdem seien die Zeiten fortschrittlicher geworden. Sie erinnerte ihn daran, dass fast alle Bürger von Hemite Analphabeten waren und was das für das Dorf bedeutete: Rückschritt und die Unfähigkeit zur Zukunftsgestaltung. In der Hinsicht war Cemirs Mama eine weitsichtige Frau, auch wenn sie niemals aus ihren ehelichen Traditionen ausbrechen würde, wie sich bestätigte, als Kemal über die Worte seines Weibes lachte, und ihre Ideen verscheuchte wie einen Salamander, der sich zum Sonnen auf einem Stein niedergelassen hatte. Er spannte Cemir hinter den Ochsen, wie er es für richtig hielt.
Vermutlich wäre Cemirs Leben in diesen Bahnen geblieben, wäre nicht die uralte Jamila gestorben.
Großmutter Jamila lebte nach dem Tode ihres Mannes Yasar schon lange Zeit auf einem Teppich, einem Kilim, mit seltsamen Symbolen und geometrischen Mustern, deren Sinn nur sie kannte, in einem winzigen Lehmhaus am Ortsrand. Man brachte ihr regelmäßig Nahrung, übermittelte ihr den neuesten Klatsch und die aktuellsten Ereignisse, die Jamila aufsaugte wie eine Ertrinkende die Luft zum Leben - ansonsten ließ man sie in Ruhe. Selbst im Frauenkreis war sie nicht mehr gerne gesehen, weil sie eine große Klappe hatte und den Frauen beharrlich Dinge abverlangte, die diese nicht erfüllen wollten, wie den Schleier abzulegen oder mal für einen oder zwei Tage in den Haushaltsstreik zu treten. Das war einfach lächerlich, absurd, Hirngespinste einer senilen Alten. Kein Wunder, dass der Ältestenrat ein großes Interesse daran hegte, Jamila abseits zu halten. Einfältige Ideen bringen einfältige Frauen auf einfältige Gedanken, sagen die Männer. Dennoch machten Jamilas Fantastereien so manches Weib launisch, was in einigen Familien zu Konflikten führte. Außerdem war die Alte erste Anlaufstation, wenn ein Mädchen vergewaltigt worden war und jemanden brauchte, bei dem sie sich anlehnen konnte. Niemand konnte besser Trost spenden als Jamila, niemand absorbierte den Hass der Geschändeten besser als sie.
Nach ihrem Tod hinterließ sie dem des Lesens mächtigen Dorfältesten eine Kladde mit vielen gelben Seiten. Der alte Muchmat kontrollierte die Seiten, fuhr mit den Fingerspitzen ehrfürchtig über die Bleistifteintragungen und bestätigte die Echtheit. Jamila hatte vor allen Bewohnern geheim gehalten, dass sie schreiben konnte, trotzdem hatte sie über zwanzig Jahre lang jede Geburt und jeden Todesfall akribisch notiert. Man munkelte, sie habe außerdem alle Verfehlungen der Dorfbewohner, geschäftliche Betrügereien, Intrigen, die Namen schändender Männer, die Namen deren Opfer und andere unappetitliche
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