Alles auf Anfang: Roman (German Edition)
ich dir verraten: Am liebsten lese ich Jerry Cotton und Spionageromane! Mit schönen Männern, die die Welt retten.«
Frank steht auf und rückt den Stuhl an den Küchentisch. Er nimmt das Buch und legt es zum Trocknen auf die Fensterbank, die in Sonnenlicht getaucht ist. Er stützt sich auf und sieht den Acker, der auf ihn wartet und die ruhige Straße, den mittäglichen Sommerfrieden.
Er wendet sich ab, beugt sich zu Oma Käthe runter und drückt ihr einen Kuss auf das Haar und zitiert aus Effi Briest. »Das alles, liebe Muttel, ist ein weites Feld.«
Und endlich spiegelt sich der schöne Sommermittag in den Augen von Oma Käthe.
4
Es ist gegen Mittag und die Hitze wabert über dem Kurfürstendamm.
Lotte Wille hat sie sich ein paar Tage freigenommen, lässt Arbeit Arbeit sein und besucht ihre Tochter Ottilie, die seit einem Jahr bei Regina und Otto wohnt.
Lotte ist ganz durcheinander, so sehr werden ihre Augen von den unzähligen Schildern abgelenkt, auf denen Berlin die Filmfestspiele feiert. Sie liest Namen wie Sidney Lumet oder Roman Polanski. Namen, die ihr nichts sagen. Sie ist noch immer geschafft von der Zugfahrt durch die DDR. Zuerst die Passkontrolleure, die sie angestarrt haben, dass ihr fast das Herz stehen blieb. Eine unendliche Weile Auge in Auge, dann wieder der Blick auf das Ausweisfoto und zurückgeschnellt in Lottes Gesicht. Dann die Zugfahrt, durch graue Schächte, gelb geflieste Wände, Soldaten mit Waffen an jedem Bahnsteig. Eine Sünde ist das mit der Mauer! Und das Schlimmste ist, dass dieses Gefängnis für alle Zeiten bestehen bleiben wird.
Wie immer, wenn Lotte in Berlin ist, fühlt sie sich von der Weitläufigkeit der Straßen überfordert - schreckt sie vor den schrill bimmelnden Straßenbahnen zusammen, deren Fühler oben an der Stromleitung elektrisch knispelnde Funken sprühen, direkt vor dem Hauptbahnhof schlängeln sie sich in beide Richtungen durch den Kopfstein – schaudert es sie vor den braungrau endlosen Häuserzeilen - staunt sie über die Vielzahl an Autos - schüttelt sie den Kopf über Männer mit Bierflaschen, von denen ihr einer hinterherruft ‚Du bist aber een steilen Zahn, watt?‘ Angetrunkene, die am Kiosk stehen, kleinen Holzbaracken, wo man Getränke, Zeitungen und Zigaretten kaufen kann.
Alles ist so groß, so unüberschaubar. Die Ruine der Gedächtniskirche starrt in den Himmel. Menschen hasten und scheinen keine Zeit zu haben.
Ja, immer wenn sie in Berlin ihre Tochter Ottilie besucht, hat sie Heimweh nach Bergborn, sehnt sie sich zurück nach der Überschaubarkeit der kopfsteingepflasterten Straßen, der Bergarbeitersiedlungen mit den geordnet rotbackigen Häusern, Hinterhöfen, Torwegen und Gärten, wo man miteinander spricht, sich erkennt und zunickt, wenn man sich beim Einkaufen im neuen Konsum begegnet, tratscht und Neuigkeiten austauscht.
Überhaupt ist das mit dem Einkaufen so eine Sache. Viele Menschen fahren nach Berlin, um sich von der Buntheit verführen zu lassen. Was nützt ihr, Lotte, ein großes Warenangebot? Sie hat, was sie benötigt. Sparen ist angesagt, sparen, bis der Grundstein für ein eigenes Haus erfüllt ist. Schaffe, schaffe, Häusle baue, treu und redlich ...
Lotte ist vor dem kleinen Laden angelangt. Sie fummelt ein Taschentuch aus der Handtasche und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Das Taschentuch färbt sich braun. Das ist Berliner Dreck, der in der Luft schwebt, selbst im Sommer, selbst wenn der Nachtwind den Dunst vertrieben hat; freilich, es ist erträglicher als im Herbst, wenn die Abgase aus den Schloten stinkend einen dräuenden Nebel über die Städte legen, eine Dunstglocke, die greifbar ist, deren Auswirkungen Bäume entlaubt.
Der Bodensatz harter Arbeit ist es, sagt man, kommt von drüben rüber, sagt man, nicht Schminke ist es, denn Lotte schminkt sich nie! Sie mag diese Beschönigung nicht. Außerdem macht Make-up die Haut kaputt, altert sie frühzeitig, verschönt und fälscht.
In geschwungenen Lettern steht auf der Schaufensterscheibe GINAS MODE.
Das Schaufenster ist blitzblank geputzt, die Auslage spartanisch und mit einer Markise gegen den Sonneneinfall abgeschattet. Die Dekoration ist seit Lottes letztem Besuch vor vier Wochen abgeändert worden. Hier ein Minirock, dort eine Bluse, ein überbreiter Gürtel, da eine Plattenhülle von The Beatles, daneben eine von The Rolling Stones - vier hohlwangige Kerlchen mit tiefliegenden Augen - zwei Paare Schuhe, eine vergrößerte
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