Alles auf Anfang: Roman (German Edition)
Dessen Zustand schmerzt ihn, noch mehr indes schmerzt ihn die Trauer, die aus Muttels Augen flutet, ihre Schale aufweicht wie Kaffee einen Ledereinband.
»Weißt du, wie viele Kinder ich hätte haben können? Fünf! Zwei habe ich verloren, und die übrigen drei tragen Jupps Erbmasse in sich. Lotte hat Jupps Augen, seine Haarfarbe und seinen Dickkopf, Otto dessen Geschäftstüchtigkeit und Klugheit und Rudi ist ebenso ein Draufgänger, wie es sein Vater war. Sie alle sind ein Teil dieses namenlosen vergessenen Soldaten und sie alle scheren sich einen Dreck darum.« Ihre Augen werden feucht. »Ich vermisse ihn, Frank! Ich vermisse diesen Kerl so sehr. Er war mein erster Mann und er war mein letzter Mann ... in Liebe.«
Sie unterbricht sich und sieht für einen Augenblick aus, als wolle sie ausspucken. »Ich war schon mit vierunddreißig Jahren eine Jungfer, eine Vettel. Ich dachte, je mehr ich von meinem Selbst aufgäbe, desto größer sei meine Liebe – und ich hatte recht, denn ich empfand es die überwiegende Zeit als richtig. Das ist manchmal anstrengend und verbessert meine Laune nicht unbedingt – glaub’ mir! - und es gab nicht wenige Tage, an denen ich mich fragte, wie lange ich mich der Männerwelt noch verschließen solle und ob ich nicht einen fürchterlichen Fehler beging. Sagt man nicht, regelmäßiger Sex erhalte jung?«
Frank bekommt rote Ohren. Zwar wogt in Deutschland die sexuelle Revolution, dessen ungeachtet verknüpft er dieses Erwachen nicht mit Oma Käthe.
»Es gab - hört, hört! - ein paar Männer, die um mich anhielten und die sich alle einen Korb einholten. Zwei von denen sahen sogar ziemlich gut aus. Aber vermutlich ist alles ganz einfach und lapidar, so wie meistens im Leben, ich habe Jupp bis heute nicht vergessen und liebe ihn noch immer! Basta! Ich male mir immer wieder aus, wie es heutzutage sein könnte. Wir, Jupp und ich, hätten ein Häuschen, wir würden nach Rimini in Urlaub fahren oder an den Lago Maggiore, wir könnten gemeinsam Radio hören oder uns im Kornfeld lieben!« Sie grinst. »Na ja, letzteres vielleicht nicht mehr.«
»Wer weiß«, entfährt es Frank.
»Hast Recht, Frank. Wahre Liebe kennt kein Alter.« Oma Käthe beugt sich vor und legt ihre kleine Hand auf die von Frank. »Und weißt du, was das Beste ist?«
Frank schüttelt den Kopf.
»Ich hasse deutsche Literatur, dieses schwulstige Geschreibsel, denn ich finde sie langweilig und geschwätzig! Ich habe das alles nur Jupp zuliebe gelesen. Außerdem ...« Sie grinst schelmisch. »... vieles davon verstehe ich schlicht und einfach nicht.«
»Ist auch nicht so wichtig.« Mehr fällt Frank nicht ein.
»Ich hasse Goethe. Habe ihn immer gehasst. Aber Jupp sah das anders, denn er hielt Goethe für ein Universalgenie und versuchte, mich vom Gegenteil zu überzeugen. Kurz bevor er wieder in den Krieg zog, nach einem Heimaturlaub, gab er mir ein Buch von Fontane. Es heißt ...«
»Effie Briest?«
»Das ist es«, bestätigt Oma Käthe.
»Nebenan steht eine sehr schöne Ausgabe davon.«
»Diese Geschichte würde mich entzücken, meinte Jupp, sie sei ehrlich, warmherzig und modern geschrieben. Ich tat ihm den Gefallen und fand das Buch spannend und beeindruckend, las es zweimal, dreimal, und tatsächlich hab’ ich Fontane kapiert, ich begriff, was ich las, wenn du verstehst, was ich meine. Ich wartete auf Jupps Rückkehr und las es noch einmal, denn ich wollte gewappnet sein, weil ich wusste, dass er mit mir darüber diskutieren wollte. Und den Gefallen wollte ich ihm tun, obwohl ich’s nicht spannend fand. Also – nicht richtig spannend. Aber mein Mann kam nie mehr zurück.«
Oma Käthe nippt an ihrer Tasse. »Eigentlich wollte ich heute Morgen noch ein bisschen in deiner Effie-Ausgabe blättern. Nur so aus der Erinnerung heraus. Um an Jupp zu denken.«
Frank nickt und trinkt Kaffee. Ja, wenn sie ein Recht hat, an seiner Gegenwart teilzunehmen, hat auch er ein Recht darauf, an ihrer Vergangenheit teilzunehmen. Er sieht zu ihr auf. Da ist etwas auf ihrem Gesicht, eine unermessliche Tiefe, der Ausdruck eines schweren Lebens, der geheimnisvolle Stempel von Gefühlen, Erfahrungen und Leiden.
»Ich find’s schön, mit dir darüber zu sprechen, Frank. Ich red‘ ja sonst über nix, weil ich gelernt habe, meine Erinnerungen zu verbergen, aber wie du siehst, genügt manchmal ein verschütteter Kaffee, um die Vergangenheit lebendig werden zu lassen.«
»Du bist schon ’ne Marke.«
»Und noch ein Geheimnis will
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