Alles auf Anfang: Roman (German Edition)
ein leichtes Hemd überwirft, nach Kaffee fragt.
Wahrscheinlich hat sie mal wieder schlechte Laune, denkt er und versucht, seine Schwiegermutter zu ignorieren. Vermutlich ist Alter wirklich die hoffnungsloseste aller Krankheiten, denn Oma Käthe hat auch schon mal gesünder ausgesehen, obwohl sie erst 57 Jahre alt ist, wobei gesünder eigentlich das falsche Wort ist, richtig wäre, agiler, aktiver, lebendiger!
Mit einem sehnsüchtigen Blick auf die gute Stube, die nun allzeit begehbar ist, weil Oma Käthe dort schläft, auf seine Bücher und die gemütliche Couch, auf der Käthes Bettzeug gestapelt liegt, wendet Frank sich wortlos ab, schnappt sich den Wasserkessel und füllt ihn auf.
»Danke der Nachfrage.« Oma Käthe, hört sich an wie ein knurriger Papagei, der seinen Schnabel am Sitzholz wetzt.
Frank stellt den Kessel auf den Ofen und schürt das kleine Feuer, das trotz der Sommerhitze stets glühen muss, damit gekocht werden kann. Bald, ja bald, werden sie einen elektrischen Ofen haben, dann ist Schluss mit der schweißtreibenden Brikettstocherei.
»Vor drei Minuten hatte ich einen Schlaganfall und vor zwei Minuten einen Blutsturz«, murrt Oma Käthe. »Aber eine kleine Preußin erträgt alles.«
Frank schließt die Ofenklappe und dreht sich zu ihr um. »Was ist los mit dir?«
»Ach nee ... kann ich mit etwas selbstmitleidiger Jammerei die Aufmerksamkeit meines erschöpften Schwiegersohnes erringen?«
Frank schmunzelt. »Hast du jemals etwas nicht errungen, was du wolltest?«
»Dazu gäbe es viel aufzuzählen. Wir könnten mit der Liebe meiner Tochter beginnen.«
»Kein Grund für Selbstmitleid, oder? Eher ein Grund für eine Aussprache zwischen Lottchen und dir.«
»Für deine Frau bin ich wie eine saure Suppe, an der man sich den Magen verdirbt.«
»Jetzt übertreibst du ...«
»Viele Wahrheiten setzen sich nur als Übertreibung durch.« Oma Käthe zeigt ihre makellosen Zähne. Ihre polierten Wangen sind rund wie Äpfelchen und einmal mehr sieht sie aus wie eine Märchenoma. »Sag mal ...« Sie mustert Frank eindringlich. »Was redet Lotte eigentlich über ihren Vater?«
»Was Töchter so reden. Er starb im Krieg, wie so viele Männer.«
»Ja, das tat er. Und zwar ziemlich ungemütlich.«
Frank zieht sich einen Küchenstuhl heran und setzt sich rittlings darauf. Er stützt seine Ellenbogen auf die Lehne und betrachtet Oma Käthe freundlich. »Jedenfalls hast du nach deinem Schlaganfall vorhin keine Sprachlähmung ...«
»Das würde dir so passen, oder?«
»Gott bewahre. So viel Glück auf einmal steht den Willes nicht zu.«
»Schlawiner.«
»Was ist passiert?«, will Frank wissen.
Mit einer Kopfbewegung lenkt sie seinen Blick auf das Tischchen vor ihr und auf das Buch, das dort liegt.
»Faust«, sagt Frank. »Eines meiner Bücher, ein seltenes Exemplar.«
»Ja, Faust«, antwortet Muttel. »Er ist ein geiler Idiot. Ich halte es eher mit Mephisto. Ich bin der Geist, der stets verneint!«
»Käthe Jäckel, eine Goethe-Kennerin. Du überraschst mich immer wieder.«
Sie runzelt die Stirn. »So ist das. Man kennt sich und kennt sich doch nicht. Man redet miteinander und man redet aneinander vorbei. Im Grunde sind wir nichts anderes als Bilder, die man nach einer gewissen Zeit nicht mehr wahrnimmt. Oder hast du dich je gefragt, warum ich hartes Brot nicht wegwerfen kann und meine Straßenschuhe jeden Abend vor dem Bett abstelle?«
Frank schweigt.
»1942 gab es eine Gründgens-Inszenierung in Berlin. Mein Mann und ich besuchten dort meine Mutter in Fredenau. Es hätte nicht viel gefehlt und wir hätten uns den Faust angeschaut, im Renaissance-Theater in der Knesebeckstrasse. Zwei Tage, bevor es dazu kam, musste mein Mann wieder einrücken, an die Front, zu den Erdölfeldern im Kaukasus. Es war das letzte Mal, das ich ihn sah.«
»Das ist lange her.«
»... und nicht der Grund, warum ich deprimiert bin. Nicht wirklich.« Sie reicht ihm das Buch, schön in Leder gebunden, mit Goldschnitt - und welligen Blättern voller brauner Flecken, als sei es in eine mit Kaffee gefüllte Badewanne gefallen.
»Ach Frank«, Oma Käthes’ Stimme wird leiser, ihre Augen hinter der kleinen Lesebrille ziehen sich zusammen, dazwischen bildet sich eine Kummerfalte und nun wird Frank in seiner Schwiegermutter jene Frau gewahr, die sie bald sein wird: eine altväterliche Dame, auf dem Weg in den letzten Moment. »Ich wollte nur mal ein bisschen drin blättern, weil Jupp es geliebt hat und da hab ich
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