Alles auf Anfang
Stoppeln übersehen hatte. Zuletzt klappte ich das Rasiermesser zu und trat von meinem Werk zurück. Von den Fußwurzelknochen bis hinauf zu den Rändern seiner langen Koteletten war Hector absolut haarlos.
Hector wirbelte auf einem Fuß herum, den anderen auf den Schenkel gestützt. Nach vollendeter Drehung stellte er sich auf das rechte Bein, beugte den Oberkörper vor, streckte den rechten Arm nach vorne aus und das linke Bein und den linken Arm nach hinten, das Ganze parallel zum Boden - eine in jeder Hinsicht perfekte Arabesque. Ich begriff, dass Hector Tänzer war, dass mir diese Tatsache schon früher hätte klar sein müssen: Das waren Tänzerbeine, elegant, aber brutal kräftig, Tänzerarme, geformt vom jahrelangen Heben der Ballerinen, graziös vom endlosen Trainieren der Ports de bras.
Kurz nachdem ich in die Stadt gezogen war, warnte mich einer meiner neuen Freunde, mich nie mit einem Tänzer einzulassen. »Das sind miese kleine Luder«, sagte er. »Alle miteinander. Man verliebt sich in ihre perfekten Ärsche, und die verscheißern einen nur.«
Die Zuschauer applaudierten, und Hector machte eine tiefe Verbeugung, nahm dann meine Hand, und wir verbeugten uns gemeinsam.
Die Party ging bis zum frühen Morgen weiter, während die anderen Männer sich paarweise zusammentaten und sich gegenseitig rasierten. Wasserschlachten, Scheinringkämpfe, Klapse auf den Hintern - die üblichen Umkleideraumblödeleien. Aber die Spannung war raus. Niemand sonst hatte ein Rasiermesser. Niemand sonst hatte Hector. Jeder Mann im Raum wollte ihn vögeln, doch er saß bei mir, auf Satinkissen,
die stapelweise in einer schummrigen Ecke des Raumes lagen. Wir unterhielten uns leise, und die anderen Männer starrten zu uns her. Der Kunstkritiker wirkte besonders amüsiert; einmal rief er uns zu: »Vorsicht, ihr beiden. Verbindungen zwischen Tänzern und Malern stehen unter keinem guten Stern. Denkt an Isadora Duncan.«
Wir dachten nicht an Isadora Duncan. Wir redeten stundenlang, gingen ab und zu hinaus in den Salon, um uns neue Drinks zu holen und auf die verregnete Stadt zu blicken. Ich kam mir ein bisschen blöd vor, bei einem blassen Mädchen einen Wodka zu bestellen, während ich eine mittlere Erektion zur Schau trug, aber sie sah mich nie an, warf lediglich verstohlene Blicke auf Hector, wenn er in die andere Richtung schaute.
»Du musst mich tanzen sehen«, befahl er mir und nippte an einem Glas Mineralwasser.
»Liebend gern.«
»Wir haben an diesem Wochenende Premiere. Le Sacre du Printemps . Magst du Strawinsky? Ein sehr schwieriges Ballett, sehr streng, sehr anstrengend für den Tänzer.«
»Dann viel Glück.«
Hector riss gespielt entsetzt die Augen auf. »Nein, nein. Du darfst zu einem Tänzer niemals viel Glück sagen.«
»Hals- und Beinbruch?«
Er bekreuzigte sich. »Gott bewahre! Nein, bloß nicht. Niemals. Du musst merde sagen.«
» Merde? Wirklich?«
»Ja, merde .«
Hector erzählte mir, dass er zur Schauspielerei wechseln wollte; er meinte, dass die Welt des Balletts zu klein sei, dass
sie ihn einenge. Der Solotänzer in den größten Produktionen seiner Compagnie zu sein, der Romeo in Romeo und Julia, der Prinz Desiré in Dornröschen, genügte ihm nicht. Er wollte ein Millionenpublikum. Er wollte zum Film.
Ich hörte ihm zu und malte es mir im Geiste aus. Ich würde meine Farben aufgeben und die Kamera bedienen; Hector konnte der Star sein. Ich würde ihn mit dem Zoom heranholen, und er konnte sein berühmtes Lächeln zeigen, seine strahlend weißen Zähne für ganz Amerika blitzen lassen, ein Zwinkern, bei dem alle Welt in Verzückung geriet.
Irgendwann nach Mitternacht bedeutete er mir, ihm zu folgen. Er führte mich durch dunkle Flure und in ein großes Schlafzimmer. Die zerwühlten Laken eines ungemachten Bettes; der Pyjama mit Paisleymuster auf einer Bank am Fußende des Bettes ausgebreitet; das ledergebundene Fotoalbum aufgeschlagen, Klarsichthüllen mit Fotos von Hector - alles blau beleuchtet von der noch immer funkelnden Stadt draußen vor den wandhohen Fenstern. Hector, blauhäutig, legte die Handflächen auf die Scheibe und starrte auf die benachbarten Gebäude.
»Glaubst du, dass uns hier oben jemand sehen kann?« »Schon möglich«, sagte ich. Er schwieg, und ich setzte hinzu: »In dieser Stadt ist jeder ein Voyeur. Genau in diesem Moment sind Hunderte von Fernrohren auf uns gerichtet.«
»Hoffentlich«, sagte er, wackelte mit den Hüften und lachte. »Magst du mich,
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