Alles außer Mikado: Leben trotz Parkinson (German Edition)
Begrüßung ging es zum Kaffeetisch. Seine Frau knüpfte ihm liebevoll ein riesiges Lätzchen um den Hals, ein halbes Bettlaken – wie beim Friseur. Er versuchte die Tasse zum Mund zu führen, aber die Hälfte ging daneben. Und dann erst der Kuchen. Der lockere Mürbeteig fiel ihm samt der in Sahne gebetteten Erdbeeren von der Gabel. Der ganze Kaffeetisch vibrierte. Aber der Gast bewahrte die Fassung, unterhielt sich geistreich mit meinem Vater über Kirche und Welt im Allgemeinen und Theologie im Besonderen, obwohl er Vermessungsingenieur war. Er hatte seine theologische Kompetenz als ehrenamtlicher Prediger erworben. Ein zitternder Pastor, ein Tatterich auf der Kanzel, das passt eigentlich gar nicht.
Der Zittermann brachte dann doch die wackelige Kuchenprozedur einigermaßen hinter sich. Meine Mutter guckte ganz verlegen, weil sie den falschen Kuchen gebacken hatte. Platter Hefekuchen mit festem Belag hätte besser zu diesem geplagten Mann gepasst, aber das konnte sie ja nicht wissen.
Er sprach mit leiser, gebrochener Stimme, freundlich, warmherzig und mit großem Interesse am Ergehen seiner Gastgeber. Der Mann hatte Tiefgang. Er hatte nichts zu lachen, aber etwas zu sagen. Er bewahrte Stil, obwohl er mit dem großen Lätzchen wie ein Kind im Hochstuhl aussah.
Der freundliche Herr kam noch öfter in unser Haus. Und jedes Mal tat er mir so entsetzlich leid, dass ich inständig hoffte, nie solch eine erbärmliche Krankheit zu bekommen. 45 Jahre später sollte es dann doch anders kommen.
1.
Die unheimliche Begegnung mit Herrn P.
»Warum zitterst du so?«
Weil es zu kalt ist auf der Wartburg in Eisenach. Ich bitte darum, Heizlüfter aufzustellen, schließlich drehen wir die Fernsehserie mitten im frostig kalten Januar. Bei Kälte zittere ich immer. Aber ich weiß, dass es andere als thermische Gründe sind, die mich fremdbestimmen. Ich wollte es nur noch nicht wahrhaben.
Direkt vor dem Altar der Schlosskapelle war eine rote Sesselgruppe aufgebaut: ein Tischchen, Stative, Gleise für die fahrbare TV -Kamera. Und wir drei Akteure dieser zwölfteiligen Gesprächsreihe: ein Professor der Theologie für Neues Testament, eine TV -Journalistin und ich als Gastgeber und Moderator. Wir bildeten mit den Kamera-, Licht- und Tonleuten, der Visagistin, dem Produzenten und Regisseur ein kreatives und improvisationsfähiges Team. Vormittags berieten wir gemeinsam das Drehbuch, nachmittags dokumentierte ich alles schriftlich und abends, wenn die letzten Touristen die Burg verlassen hatten, wurden wir in Szene gesetzt. Und dann hieß es bis Mitternacht »Kamera läuft! Ton ab!« Alles ohne Teleprompter, diesem Gerät, das den Text auf einen Bildschirm der Kamera projiziert, damit der Moderator seinen Text vor Augen hat. Alles freihändig, möglichst druckreif und die Stoppuhr stets im Blick.
Ich hatte mich nicht für diesen Job beworben, geschweige denn ein Casting durchlaufen. Der Sender, für den ich oft Radiosendungen gemacht habe, traute mir diese Aufgabe als TV -Moderator einfach zu.
Mit dem Einstieg in die mediale Welt des bewegten Bildes begann die unheimliche Entdeckung, dass mich irgendetwas emotional und muskulär gegen meinen Willen bewegt. Das war der Anfang eines langen Weges, auf dem ich zunehmend meine Freiheit verlieren sollte. Der geheimnisvolle Herr P. war in mein Leben getreten. Er hatte seinen Besuch längst angekündigt, aber das wollte ich nicht wahrhaben. Ich hatte die scheuen Vorboten schöngeredet.
Die neue und alles beherrschende Frage war: Warum zittere ich eigentlich? Ich hab noch nie im Leben Lampenfieber gehabt.
Mit 18 stand ich als Sänger der Musikgruppe unseres christlichen Jugendkreises zum ersten Mal auf der Bühne. Als 22-Jähriger war ich Frontmann einer Studentenband, mit 25 Jahren Dirigent eines Jugendchores, und von da an habe ich fast jeden Sonntag auf irgendeiner Bühne oder Kanzel gestanden. Ich habe nie vor und schon gar nicht während eines Bühnenauftritts gezittert.
Jetzt nehme ich es wahr. Das Zittern wird latent, bisher war es nur in Stresssituationen akut. Jetzt nistet es sich ein, etabliert sich, manifestiert sich. Meine linke Hand zittert und ich kann es nicht verbergen. Meine Muskeln machen sich selbstständig. Irgendeine Schaltung im Gehirn macht, was sie will. Irgendein Prozessor jagt mir Zuckungen in den Arm, dem ich eigentlich den Auftrag erteilt hatte, mir eine Gabel Pasta in den Mund zu schieben. Und wenn die Pasta in Tomatensauce gebadet hat, ist das Ergebnis
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