Alles bestens
Mädchen gesehen hatte.
In unserer Klasse gibt es nur jede Menge Kajalfratzen, müsst ihr wissen, mit Lipgloss, so dick aufgetragen, dass man Angst kriegt, man könnte beim Küssen kleben bleiben. Und dann hat man plötzlich einen siamesischen Zwilling, ob man will oder nicht. Oder noch schlimmer: Der Kuss hört nie mehr auf und die Küsser müssen von einer neutralen Kussentfernungsstelle getrennt werden. Das macht man heutzutage natürlich mit Laserstrahlen, damit niemand ernsthaft verletzt wird. Trotzdem vergeht einem dabei die Lust auf Küssen. Deshalb bin ich so einer Lipgloss-Schnecke auch noch nie nähergekommen.
Glaubt’s mir, Leute, ich hatte mich schon längst damit abgefunden, dass mein Leben völlig kusslos verlaufen würde, bis zu dem Morgen, an dem ich Sandra kennenlernte.
Sie war Au-pair-Mädchen und wollte Sängerin werden und wohnte schon seit einem halben Jahr an der Kaiserstuhlstraße, gleich bei mir um die Ecke. Sie sagte, sie hätte mich schon öfter gesehen, wüsste, wo ich wohne, deswegen hatte sie ja mich gefragt, ob ich auf ihre Sachen aufpasse, und nicht diese zwei anderen Penner, die nun auch auf der Wiese lagen und den Tagesspiegel lasen.
Ich setzte mich hin, ihr gegenüber, und ließ mich von Luka mit Gras bewerfen. Nebenbei hörte ich Sandra zu. Es war, als sängen die Sirenen. Sie sang leise, mit ukrainischem Akzent. Sie sagte, sie würde jeden Morgen im Schlachtensee baden, wenn das Wetter schön sei, dann sei sie frisch für den ganzen Tag. Sie müsste viel arbeiten. Außer Luka hätte sie noch ein Kind zu betreuen, ein Mädchen, dreieinhalb, das bringe sie morgens um neun zum Kindergarten. Wenn sie danach gleich nach Hause ginge, bügelte sie erst die Wäsche, putzte ein bisschen und machte Luka Brei. Und dann hätte sie zwei, drei Stunden Pause, weil der Kleine schliefe und sie das Mädchen erst um vier vom Kindergarten abholen müsste. In der Pause würde sie singen üben, denn bald hätte sie einen großen Auftritt in einer Talentshow. Vielleicht würde sie sogar ins Fernsehen kommen.
Ich stellte mir vor, wie ich die Pause mit ihr gemeinsam verbringen würde, sah zu, wie sie die Kinder ins Bett brachte und mir dann vorsang. Ich schaute auf ihr braunes Haar, aus dem es in die Kuhle über ihrem Schlüsselbein tropfte, beobachtete, wie sich vier, fünf Tropfen zu einem kleinen See sammelten und dann über ihre Brust rannen. Ich hätte gern die Tropfen mit meinen Lippen aufgefangen. Aber sie tropften ins Gras.
»Die Familie ist sehr, sehr nett«, sagte sie. »Und Deutschland ist ein sehr, sehr schöner Land.«
»Zehlendorf ist nicht Deutschland«, sagte ich und überlegte, ob ich ihr sagen sollte, dass es »schönes Land« heißt. Aber dann stellte sich heraus, dass sie in dem halben Jahr, wo sie hier war, noch nicht über Zehlendorf hinausgekommen war, weil sie jeden Abend nach der Arbeit in der Matterhornstraße Deutsch lernte, nebenan von dem gefährlichen Dobermann, und den Rest der Nacht versang.
»Ich weiß«, sagte sie. »Zehlendorf ist nur eine kleine Teil von Deutschland. Aber mir gefällt sehr. Alles so sauber, gibt Mikrowelle und Wäschetrockner und Flachbildfernseher …« – Das Wort »Flachbildfernseher« konnte sie einwandfrei aussprechen.
»… und Rollstühle für Kaninchen«, sagte ich.
»Was ist das?« Sie riss ihre honigbraunen Augen weit auf.
Zum Glück bahnte sich gerade am Ufer eine Frau mit einem Mann im Rollstuhl einen Weg durch die Jogger. Jetzt musste ich ihr nur noch »Kaninchen« erklären.
Zum Glück hatte sie einen Stift dabei. Auch ein Buch. Ich schlug es auf und malte ihr auf Seite 45 ein Kaninchen, vorsichtshalber noch einen Rollstuhl dazu. Sandra lachte.
»Rollstuhl für Kaninchen? – Nein, nein«, sagte sie und kriegte sich gar nicht wieder ein.
»Doch, doch«, sagte ich und schaute ihr beim Lachen zu.
Mein Kumpel Sascha, der mir die Kinokarten abgestaubt hatte, mit dem hatte ich mal beim Surfen im Internet eine Versandfirma für Kaninchenrollstühle entdeckt. Es gab auch Rollstühle für Hunde und Frettchen. Es gab sogar Bonsai-Kätzchen, die man als Babys in eine eckige Flasche stopfte und erst wieder rausließ, wenn ihre Wirbelsäule die Form der Flasche angenommen hatte. So ein Psychopath in New York züchtete sie.
Sandra schüttelte immer noch den Kopf.
»Eigentlich gibt es das gar nicht in Deutschland«, sagte ich, »sondern im Internet.«
»Oh ja«, sagte sie. »Ich habe Arbeit aus Internet. In Internet gibt alles.«
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