Alles bestens
fing langsam an, mich zu interessieren, und ich fragte mich, warum er mich damals im Unterricht so genervt hatte. Ich weiß noch, dass er mir tierisch auf die Eier ging, weil er mit allen möglichen Typen einen Drink nehmen wollte, sogar mit Taxifahrern, Pianisten und Portiers, nur weil er so verdammt einsam war. Mir ist fast schlecht geworden von so viel Aufdringlichkeit, aber die Mädchen in unserer Klasse waren hin und weg von ihm, fanden ihn charmant, witzig und sexy, auch Betty the Frog . Dabei ist Holden überhaupt kein Hecht, sondern nur ein mieser, verklemmter Feigling. Das hätte ich ihnen jetzt beweisen können, allein an der Handschuh-Szene:
Holden steht in New York herum, es ist bitterkalt und irgend so ein Schleimscheißer aus dem Internat hat ihm wahrscheinlich seine Handschuhe geklaut. Sogar in Gedanken ist er zu feige, sie sich zurückzuholen. Malt sich das Gespräch aus, wie er sich verhalten würde, wenn er den Typen auf die Handschuhe anspräche, und kommt auf den Punkt, dass er sich eh nicht traut, ihm eine reinzuhauen, gesetzt den Fall, dass der ihm die Handschuhe wirklich geklaut hat, was er ja nicht beweisen kann.
Völlig paranoid, wie er immer und immer wieder diese Möglichkeit durchspielt, nur weil er kalte Hände hat und ein Feigling ist. Damals im Unterricht dachte ich, Mannomann, wie kann der Typ sich nur vor sich selbst so runtermachen. Meine Mutter hätte die reinste Freude an ihm gehabt, sie steht auf sensible, an sich selbst zweifelnde Menschen. Ihr müsstet sie mal hören, wenn sie anfängt, von sensiblen Menschen zu schwärmen, besonders wenn es männliche sind, in meinem Alter – oder eben in Holdens. Später, sagt sie, gibt es keine sensiblen Männer mehr, nur noch abgestumpfte.
Dabei ist das völlig schizophren! Im wirklichen Leben kann ich doch nirgends hingehen und sagen, hört mal, Leute, ich bin ein verdammter Feigling, einsam, verklemmt und sensibel, wo doch die ganze Welt immerzu toughe Helden braucht. Sogar für eine verfickte Lehrstelle musst du ein Held sein – jung, dynamisch, entscheidungskräftig und vor allem: innovativ. Ehrlich, Leute, ich würde dem Typen, der sich dieses beschissene Wort ausgedacht hat, gern eins aufs Maul hauen! Ich kenne keinen in meinem Alter, der »innovativ« ist. Wir wissen noch nicht mal, was das bedeutet, obwohl an jeder Ecke von einem verlangt wird, innovativ zu sein und der ganze Mist.
Ich klappte das Buch zu, nagte an meinen Gedanken, als wären es Fingernägel. Für meine Eltern war eh klar, dass ich studiere. Knochenklempnerei natürlich. Schließlich soll ich mal die innovative Praxis von meinem Alten übernehmen, obwohl meine Mutter mich vorher gern ein Jahr nach New York abschieben würde, zur Charakterstärkung. Ich glaube, sie hat in ihrer Jugend zu viele Woody-Allen-Filme gesehen. Was ich selbst wollte, wusste keiner. Nicht mal ich.
Auf der Wiese waren jetzt jede Menge Leute. Die Luft flimmerte. Als ich aufstand, wurde mir kurz schwindelig. Ich musste stehen bleiben, bis die Umwelt wieder Konturen annahm. Es war eben überhaupt nicht gesund, als junger Mann so lange zu hungern. Nicht dass ich das nicht eingesehen hätte, aber ich konnte nichts dagegen tun. Ich wollte Sandra dieses verdammte Buch wiedergeben, andererseits hätte ich es auch gern zu Ende gelesen. Also beschloss ich, sie zu fragen, ob sie es mir leihen könnte. Bei der Gelegenheit würde sie mir bestimmt ein paar Brötchen und eine Kanne Kaffee anbieten, die Osteuropäer sind ja bekanntlich sehr gastfreundliche Menschen.
Auf dem Weg zu ihr ging ich an unserem Haus vorbei. Die Post war inzwischen da gewesen und hinter der Pforte lag ein Paket. Es war für meine Mutter, von einem Versandhaus. Meine Mutter hat keine Zeit zum Shoppen. Sie bestellt sich alles per Katalog. Ich riss den Karton auf und hoffte, dass nicht nur Nachthemden und Damenbinden in dem dämlichen Päckchen waren, meine Mutter ließ sich wirklich alles schicken!
Ich zog eine khakifarbene Leinenhose heraus und ein rotes Seidending mit schwarzer Spitze. Na bestens, genau die richtige Garderobe für mich!
Das Seidending entpuppte sich bei näherer Betrachtung tatsächlich als ein Nachthemd. Ich nahm die Klamotten und ging in den Garten und da kam mir eine Idee. Ich riss mit den Zähnen die Spitze vom Nachthemd, knotete die Träger zusammen und probierte es an. Im Kellerfenster konnte ich mich spiegeln. Gar nicht schlecht, nur musste ich den Ausschnitt ein bisschen weiter aufreißen. Der Stoff
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