Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)
wenn der Staat nicht seinen säkularen Charakter bewahrt, wenn er sich auf die quantitativ begründeten Argumente einlässt, die die Gegner des Kruzifix-Urteils nun ins Feld führen – warum sollte der Staat nicht ein christlicher sein, wenn die meisten Bürger es sind? –, und sich mit einer Kirche identifiziert, dass dann die Demokratie über kurz oder lang am Ende ist. Aus einem ganz einfachen Grund: Keine Kirche ist demokratisch. Sie alle postulieren eine Wahrheit, an der – wer kommt schon an gegen Transzendenz und den wundersamen Schutz eines göttlichen Wesens? – alle Argumente der Vernunft zerschellen. Auch würden sie sich selbst verleugnen, geradezu Selbstmord begehen, wenn sie tolerant wären, sich verkröchen und die Bereitschaft aufbrächten, die grundlegenden Prinzipien des demokratischen Lebens wie Pluralismus und das Nebeneinander sich widersprechender Wahrheiten zu akzeptieren, die Bereitschaft, ständig Kompromisse zu schließen, um einen gesellschaftlichen Konsens zu erreichen. Wie wollte der Katholizismus überleben, wenn er, sagen wir: das Dogma von der unbefleckten Empfängnis den Gläubigen zur Abstimmung stellte?
Wie dogmatisch und unnachgiebig Religion ihrem Wesen nach ist, sehen wir besonders deutlich am Beispiel des Islams, denn die Gesellschaften, in denen er feste Wurzeln schlug, haben nicht die Säkularisierung erlebt, die im Westen die Religion vom Staat trennte und ihr den Privatbereich zuwies, womit sie zu einem individuellen Recht wurde statt einer öffentlichen Pflicht und also gezwungen, sich den neuen Gegebenheiten anzupassen, das heißt, sich auf eine immer privatere und weniger öffentliche Tätigkeit zu beschränken. Daraus jedoch zu schließen, die demokratischen Gesellschaften wären, würde die Kirche ihre dort verlorene weltliche Macht zurückgewinnen, weiterhin so frei und offen, wie sie es heute sind, wäre mehr als naiv. Optimisten wie Paul Johnson, die dies glauben, mögen einen Blick auf jene Länder der Dritten Welt werfen, wo die katholische Kirche es noch in der Hand hat, Regierung, Gesetzgebung und Gesellschaft entscheidend zu beeinflussen. Man sehe sich nur an, was dort mit der Filmzensur passiert oder wenn es um Scheidung und Geburtenkontrolle geht – von der Legalisierung der Abtreibung gar nicht zu reden –, und es ist offenkundig, dass die katholische Kirche, so es ihr gegeben ist, keine Sekunde zögert, ihre Wahrheiten mit allen Mitteln aufzuzwingen, nicht nur ihren Schäfchen, sondern auch allen Ungläubigen, die in ihre Nähe kommen.
Weshalb eine demokratische Gesellschaft, die eine solche bleiben will und die zugleich die Bekenntnisfreiheit garantiert und in ihrer Mitte ein religiöses Leben gutheißt, darüber wachen muss, dass die Kirche – jede Glaubensgemeinschaft – nicht die Sphäre überschreitet, die ihr zukommt, nämlich die private; und sie muss verhindern, dass sie in den Staat einsickert und anfängt, ihre eigenen Überzeugungen der Allgemeinheit aufzuzwingen, was zwangsläufig die Freiheit der Ungläubigen und Andersgläubigen beschneidet. Ein Kreuz oder Kruzifix in einer öffentlichen Schule ist für Nichtchristen genauso anmaßend, wie es die Durchsetzung des Kopftuchs in einer Klasse wäre, in der neben muslimischen Mädchen auch christliche oder buddhistische sitzen, oder der jüdischen Kippa in einer Mormonenschule. Da es bei diesem Thema unmöglich ist, alle Religionen und Weltanschauungen zugleich zu berücksichtigen, kann die Politik eines Staates keine andere sein als die Neutralität. Die Richter des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe haben getan, was sie tun mussten, und ihr Urteil ehrt sie.
El País , Madrid, 27. August 1995
Prüfstein
Verteidigung der Sekten
1983 nahm ich im kolumbianischen Cartagena an einem von zwei renommierten Intellektuellen (Germán Arciniegas und Jacques Soustelle) geleiteten Medienkongress teil, auf dem neben Journalisten aus der halben Welt auch ein paar unermüdliche junge Leute herumschwirrten, alle mit diesem festen und glühenden Blick, wie er jene auszeichnet, die im Besitz der Wahrheit sind. Irgendwann betrat, unter großem Geflatter der jungen Schar, Reverend Moon den Saal, Oberhaupt der Vereinigungskirche, die über eine Deckorganisation den Kongress förderte. Die Mafia der Progressiven, so konnte ich später feststellen, fügte meinem Sündenregister darauf den Eintrag hinzu, dass ich mich an eine finstere Sekte verkauft hätte, die der Moonies .
Da ich, seit ich meinen
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