Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)
Religion der Frau zuweist, und das heißt absolute Unterordnung unter den Vater oder den Ehemann. Vor diesem Hintergrund sind es nicht bloß Kleidungsstücke, sondern Embleme einer Diskriminierung, der die Frau in weiten Teilen der islamischen Gesellschaft nach wie vor ausgesetzt ist. Soll ein demokratisches Land im Namen der Achtung eines Glaubens oder einer Kultur zulassen, dass es in seiner Mitte weiterhin gesellschaftliche Muster und Gebräuche (wohl eher: Vorurteile und Stigmen) gibt, für deren Abschaffung die Demokratie schon vor Jahrhunderten mit vielen Opfern gekämpft hat? Die Freiheit ist tolerant, aber sie kann es denen gegenüber nicht sein, die sie durch ihr Verhalten leugnen, die sie verspotten und letztendlich zerstören wollen. In vielen Fällen dienen religiöse Symbole wie eben die Burka und der Hidschab, die von den muslimischen Mädchen in die Schule getragen werden, als bloße Herausforderung der im Westen erlangten Freiheit der Frau, einer Freiheit, die man am liebsten beschneiden würde, indem man Zugeständnisse erzwingt und im Herzen der offenen Gesellschaft souveräne Enklaven errichtet. Hinter der scheinbar braven Kleidung verbirgt sich nichts anderes als eine Offensive, um ein Grundrecht zu erstreiten für Praktiken und Haltungen, die mit der Kultur der Freiheit unvereinbar sind.
Für ein entwickeltes Land, das dies auch bleiben will, ist Zuwanderung unerlässlich. Schon aus pragmatischen Erwägungen muss es sie fördern und Arbeitskräfte fremder Zunge und anderen Glaubens aufnehmen. Und selbstverständlich muss eine demokratische Regierung es den Migrantenfamilien ermöglichen, ihre Religion und ihre Sitten zu bewahren. Allerdings unter der Bedingung, dass diese nicht gegen die Prinzipien und Gesetze des Rechtsstaates verstoßen – von Menschenrechten gar nicht zu reden –, was weder die Diskriminierung von Frauen erlaubt noch ihre Knechtschaft. In einer westlichen demokratischen Gesellschaft hat eine muslimische Familie dieselbe Pflicht wie eine alteingesessene, ihr Verhalten an die geltenden Gesetze anzupassen, auch wenn die ihren hergebrachten Bräuchen widersprechen.
In diesem Zusammenhang sollte man die Debatte um Kopftuch, Hidschab und Burka immer sehen. So würde man die – meiner Ansicht nach richtige und demokratische – Entscheidung Frankreichs auch besser verstehen, Mädchen in staatlichen Schulen das Tragen des Kopftuchs und jeder anderen religiösen Tracht kategorisch zu verbieten.
Vorgeschichte
Prüfstein
Das Zeichen des Kreuzes
Niemand in Deutschland nahm dieses Elternpaar, Anhänger der anthroposophischen Lehre von Rudolf Steiner, allzu ernst, das von seinem abgelegenen bayrischen Städtchen aus beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe Beschwerde einreichte und vorbrachte, ihre drei Kinder seien »traumatisiert« vom Anblick des gekreuzigten Christus, den anzusehen sie in der öffentlichen Schule, wo das Kruzifix die Wände schmückte, tagtäglich genötigt seien.
Doch noch die letzte Familie im Land erfuhr – und nicht wenige nahmen es entgeistert zur Kenntnis –, dass das hohe Gericht, das über die Einhaltung des Grundgesetzes der Bundesrepublik wacht, der Verfassungsbeschwerde stattgegeben hatte. Aus dem Mund des Vorsitzenden Johann Friedrich Henschel, eines brillanten Juristen, vernahm das Publikum das von den acht Richtern des Ersten Senats mehrheitlich gefällte Urteil, wonach das Angebot der betroffenen bayrischen Schule, die Kruzifixe an den Wänden gegen schlichte Kreuze auszutauschen – vielleicht »enttraumatisierte« diese Abstraktion ja die Kinder des Streits –, unzureichend sei, und sie verpflichteten den Freistaat Bayern, Kreuze und Kruzifixe aus allen Klassenzimmern der Pflichtschulen zu entfernen, da der Staat »in Glaubensfragen Neutralität« zu wahren habe. Das Gericht differenzierte sein Urteil insofern, als es bestimmte, eine Schule dürfe nur in dem Fall, dass es Einstimmigkeit unter Eltern, Lehrern und Schülern gebe, in ihren Klassenzimmern das christliche Symbol beibehalten. Die Wellen der Empörung sind selbst bis an diesen stillen See in den Wäldern Österreichs geschwappt, wohin ich mich aus der Londoner Hitze und Dürre geflüchtet habe.
Bayern ist nicht nur das Paradies des Cholesterins und der Fettsäuren, schließlich isst man dort die besten Würste der Welt und trinkt das beste Bier; das Land ist auch ein Bollwerk des politischen Konservatismus, und die katholische Kirche ist in der Bevölkerung solide verankert
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