Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)
die sich unvoreingenommen in der Welt der Ideen bewegtenund sich über ästhetische Werte im Klaren waren, welche ihnen erlaubten, treffsicher zu befinden, was gut ist und was schlecht, originell oder epigonal, revolutionär oder routiniert, ob in der Literatur, der bildenden Kunst, der Philosophie oder der Musik. Da ich mir meiner Bildungslücken sehr bewusst bin, habe ich mein Leben lang versucht, sie zu schließen, habe gelernt, gelesen, Museen und Galerien besucht, bin in Bibliotheken gegangen, auf Konferenzen und zu Konzerten. Ein Opfer war dies für mich nicht. Vielmehr ein ungeheures Vergnügen, zu sehen, wie sich mein geistiger Horizont weitete, denn Nietzsche oder Popper zu verstehen, Homer zu lesen, Joyce’ Ulysses zu entschlüsseln, die Gedichte von Góngora, Baudelaire und T. S. Eliot zu genießen, das Universum von Goya, Rembrandt und Picasso zu erkunden, von Mozart, Mahler und Bartók, Tschechow und O’Neill, Ibsen und Brecht, das alles hat meine Fantasie außerordentlich bereichert und mein Empfinden beträchtlich geschärft.
Bis ich, wie gesagt, irgendwann spürte, dass viele zeitgenössische Künstler, Denker und Schriftsteller mich auf den Arm nahmen. Und dass es kein Einzelfall war, weder Zufall noch vorübergehendes Phänomen, sondern eine echte Entwicklung, offenbar unter tätiger Mithilfe von Kritikern, Verlegern, Galeristen, Produzenten und einem tumben Publikum, das beliebig manipulierbar schien.
Das Schlimmste daran ist, dass es wohl keine Umkehr mehr gibt, denn die Banalisierung bestimmt bereits zu einem nicht geringen Teil, wie heute gelebt, geträumt und geglaubt wird, und was ich mir wünsche, ist längst Staub und Asche und unmöglich wiederherzustellen. Aber da nichts in unserer Welt stillsteht, könnte es genauso gut sein, dass dieses Phänomen, die Kultur des Spektakels, ob ihrer eigenen Nichtigkeit sang- und klanglos vergeht und dass eine andere, vielleicht bessere, vielleicht schlechtere, in der künftigen Gesellschaft an ihre Stelle tritt. Ich gestehe, dass ich wenig neugierig bin auf eine Zukunft, an die ich, so wie die Dinge stehen, immer weniger glaube. Sehr viel mehr interessiert mich die Vergangenheit, und noch mehr die Gegenwart, die ohne die Vergangenheit nicht zu begreifen ist. In dieser Gegenwart gibt es zahllose Dinge, die besser sind als alles, was unsere Vorfahren kannten: weniger Diktaturen, mehr Demokratien, eine viel weitere Verbreitung von Freiheit, einen größeren allgemeinen Wohlstand und bessere Bildungschancen als je zuvor.
Doch im Bereich der Kultur haben wir ungewollt und fast unbemerkt eher Rückschritte gemacht, und dafür verantwortlich sind ausgerechnet die kultiviertesten Länder, denn sie marschieren an der Spitze der Entwicklung, setzen die Maßstäbe und die Ziele, an denen sich dann die anderen orientieren. Als Konsequenz dieses von der Frivolität ins Werk gesetzten Verfalls der Kultur könnte irgendwann deutlich werden, dass ausgerechnet die entwickeltsten Länder nicht mehr sind als Kolosse auf tönernen Füßen, dass sie Macht und Geltung einbüßen, weil sie so leichtfertig die Geheimwaffe verschleudert haben, die aus ihnen gemacht hat, was sie einst waren, dieses zarte Gespinst, das dem, was wir Zivilisation nennen, einen Sinn, einen Inhalt und eine Ordnung gibt. Zum Glück ist die Geschichte nicht vorherbestimmt, sondern ein leeres Blatt, auf das wir selbst – mit unserem Tun und Lassen – die Zukunft schreibenwerden. Das ist gut so, denn es bedeutet, dass uns immer noch Zeit bleibt für Korrekturen.
Eins wüsste ich allerdings gern: Werden die Bücher aus Papier überleben, oder machen die elektronischen Bücher ihnen den Garaus? Werden die Leser der Zukunft nur noch Tablets und Reader vor sich haben? In dem Moment, da ich diese Zeilen schreibe, hat sich das E-Book noch nicht wirklich durchgesetzt, in den meisten Ländern ist das Buch aus Papier immer noch beliebter. Aber niemand wird bestreiten, dass das E-Book dem Papierbuch zunehmend den Rang streitig macht, und es ist durchaus eine Zeit vorstellbar, in der die Leser digitaler Bücher in der großen Mehrheit sind und die Liebhaber des Papiers zu winzigen Minderheiten schrumpfen oder gar verschwinden.
Viele wünschen sich, dass es bald so kommt, wie Jorge Volpi, einer der Protagonisten der jüngeren lateinamerikanischen Literatur, der die Ankunft des E-Books feiert 13 als »eine radikale Transformation aller mit der Lektüre und der Übermittlung von Wissen verbundenen Praktiken«,
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