Alles Fleisch ist Gras
anderes befohlen wurde, kam ans obere Ende der Kellerstiege.
»Nicht mein Metier«, sagte er. »Die Tür hat so einen Krach gemacht, dass ich davongerannt bin.«
»Das hab ich mir gedacht«, sagte Weiß, »aber du irrst dich. Nicht die Tür hat Krach gemacht. Du hast Krach gemacht. Beim Einbruch in mein Haus. Es liegt alles an dir selbst. Gib nicht der Tür die Schuld.«
»Ich gebe niemandem die Schuld.«
»Dann ist es ja gut. Komm mit.«
Weiß ließ Ingomar Kranz ins Wohnzimmer vorangehen.
Ingomar Kranz hatte Angst. Dennoch gelang es ihm, einen kühlen Kopf zu bewahren. Er würde, dachte er, rückhaltlos ehrlich sein und seinen Standpunkt darstellen. Er hätte das gleich machen und sich nicht auf das idiotische Abenteuer einlassen sollen. Dass er in eine Falle getappt war, begriff er. In diesem Haus gab es keine Aufzeichnungen über verschwundene Personen. Es hatte auch nie welche gegeben. Er hatte sich hineintreiben lassen; letztlich war der Anruf Galbas das auslösende Moment gewesen, die Terminsetzung.
Man kann es reinen Zufall nennen oder an eine geheime Verbindung denken, an eine höhere Bestimmung sogar, jedenfalls galt der letzte Gedanke des Ingomar Kranz dem Diplomingenieur Anton Galba, als dieser, keine zweihundert Meter vom Haus des Chefinspektors Nathanael Weiß entfernt, auf einem Waldweg bei einem Kästchen von der Größe eines Mobiltelefons auf einen Knopf drückte. Ein winziger Bauteil, in die Verschlusskappe jener Flasche integriert, wurde dadurch aktiviert und reagierte, wie von Galba vorausgesehenund beabsichtigt. Jede terroristische Organisation von überregionaler Bedeutung hätte sich nach einem solchen Mitarbeiter alle zehn Finger abschlecken können; bei Anton Galba gab es keine Blödheiten wie versagende Zünder, Unfälle bei der Vorbereitung oder Versuche mit ungeeigneten Sprengstoffen wie Triacetonperoxid. Bei Galba funktionierte alles.
Es gab keine Augen-, dafür eine Menge Ohrenzeugen. Ein paar Tausend. Der Knall war kilometerweit zu hören. Das lag an den hohen Frequenzen; kein dumpfes Donnern, sondern ein schriller, scharfer Knall ungeheurer Intensität; Fensterscheiben gingen zu Bruch, Frau Hämmerle (der Nachbar hieß tatsächlich so) erlitt einen Schock und musste drei Tage lang in der Landesnervenheilanstalt Valduna behandelt werden.
Wie die Sprengstoffsachverständigen herausfanden, war die Explosion in der Wohnküche des Hauses erfolgt. Dieser Raum wies nur zwei kleinere Fenster und eine Tür auf, wodurch eine gewisse Dämmung gegeben war und eine Wand nach innen gedrückt wurde und einstürzte. Die beiden Fenster und die Tür wurden hinausgeblasen, durch die eingestürzte Wand entstanden zahlreiche Risse im Gefüge der Fertigteilwände, so dass die Stabilität des Gebäudes nicht mehr gegeben war, es musste abgerissen werden.
Ingomar Kranz hatte Pech (manche sagten allerdings, er habe Glück gehabt, wenn man sein Schicksal mit dem des Nathanael Weiß verglich), denn Ingomar wurde bei der Explosion getötet. Er dürfte dem Explosionsort einen Meter näher gewesen sein als Weiß und im bewussten Augenblick eingeatmet haben. Zahlreiche Alveolen seiner Lunge platzten, ein Teil der linken Wange wurde weggerissen, da der Mund offen gestanden war, außerdem wurde er mit großer Wucht an die eine Außenwand geschleudert; als die Rettungskräfte eintrafen, war er tot.
Nathanael Weiß hatte zum Zeitpunkt der Explosion offenbar durch die Nase ausgeatmet, seine Lunge blieb intakt, er flog durch das eine Fenster und hätte bis auf den Totalverlust seines Gehörs und einige Abschürfungen von Trümmerstücken den Vorfall überstehen können – wenn er sich nicht beim Hinausfliegen den Hinterkopf am Fensterstock angeschlagen und ein massives Schädel-Hirn-Trauma zugezogen hätte. Er konnte stabilisiert werden, erwachte aber nicht aus dem Koma, auch nicht nach Monaten, trotz aller Bemühungen der Ärzte und seiner Frau Adele, die ihn jeden Tag im Krankenhaus besuchte und ungezählte Stunden redend und vorlesend an seinem Bett verbrachte.
Er liegt immer noch dort.
Die eingesetzte Sonderkommission identifizierte den verwendeten Sprengstoff sehr rasch als Nitroglycerin, vulgo Sprengöl, Reste eines Zündmechanismus wurden allerdings nicht gefunden. An einem Anschlag bestand kein Zweifel. Es war der erste im Land und er erregte ungeheures Aufsehen, auch in den überregionalen Medien. Eine Sonderkommission des Bundeskriminalamtes recherchierte monatelang, fand aber nicht den kleinsten
Weitere Kostenlose Bücher