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Alles Fleisch ist Gras

Alles Fleisch ist Gras

Titel: Alles Fleisch ist Gras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Mähr
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überlegt, das Haus Beethovenstraße 20 von hinten anzugehen, von der Waldseite aus, aber diese Idee wieder verworfen, im Schnee gab es Spuren, die er nicht vermeiden oder verwischen konnte. Ein Weihnachtsmann mit Gepäck fiel im städtischen Umfeld nicht auf; Heimkehrer von einer feuchten Betriebsfeier, was denn sonst.
    Die Verkleidung wurde nicht getestet, es begegnete ihm niemand. In der Beethovenstraße gab es Licht hinter einzelnen Fenstern, manches flackerte im Rhythmus der Fernsehbilder. Späte Thriller oder Pornos von der Kassette. Er bog in die Zufahrt von Nummer 20 ein. Das Haus lag im Dunkeln,die unmittelbaren Nachbarhäuser auch. Er spürte das Herz im Hals schlagen, mit der Ruhe war es vorbei. Er zwang sich, nicht stehenzubleiben, ging um die Garage herum nach hinten. Erst an der Ecke hielt er an, blickte sich um, musterte die Fenster beim Nachbarn. Er stand im tiefen Schatten, der Schein der Straßenlampe reichte nicht so weit ins Grundstück. Er wartete zehn Minuten, dann noch einmal zehn. Vorn fuhr ein Auto vorbei, zu schnell für die Straßenverhältnisse. Die Unbekannte – es müsste eine Frau sein, stellte er sich vor –, die hinter einer der dunklen Scheiben des Nebenhauses gelauert und einen Weihnachtsmann beim Weiß hatte verschwinden sehen und sofort die Funkstreife alarmiert hatte; diese Unbekannte war eine Versagerin, denn sie beobachtete das Nachbarhaus auf der anderen Seite. Oder sie lag schon im Bett, wie es brave Menschen mittleren Alters um Viertel nach eins tun sollten. Denn es kam niemand. Kein Polizist und kein Auto, weder mit Blaulicht noch ohne.
    Er tastete sich an der Hauswand zur Außentreppe, fand sie auch, stieg hinab. Mit großer Vorsicht, Halt suchend, tastend mit dem Spielbein, bis er unten war. Er stellte die Tasche ab, nahm den Geißfuß heraus und setzte ihn an.
    Es funktionierte nicht. Es fehlte die Praxis. Er hätte das vorher probieren sollen, hatte auch an so einen Test gedacht, aber an welcher Tür? Er hätte eine Innentür seiner Wohnung opfern müssen. Theoretisch war klar, wie dieser Vorgang ablaufen sollte: die Schneide zwischen Türblatt und Rahmen klemmen und dann die Hebelwirkung des gekrümmten Endes ausnützen. Aber er brachte die Schneide nicht in den Spalt, der war zu schmal. Oder die Schneide zu dick. Natürlich: Das Werkzeug kroch nicht von selbst in die Ritze, man musste es hineinzwängen. Mit beträchtlicher Kraft. Oder mit einem Hammer reinschlagen. Einen Hammer hatte er nicht mit. Vergessen.Sollte er heimfahren? Er begann zu lachen. Er bemühte sich nicht einmal, die Stimme zu dämpfen. Er war ein Versager. Sogar ein Totalversager. Als Zeitgenosse, als Mensch. Als Einbrecher sowieso. Mit voller Wucht rammte er den Geißfuß in den Winkel. Die Tür gab nach, er lehnte sich gegen das Ende des Werkzeug, drückte es zur Seite, der Geißfuß erweiterte den Spalt, Holz ächzte, splitterte. Dann wurde es leicht, es knallte, die Tür flog auf. Er packte den Geißfuß ein, lief die Treppe hinauf und mit der Tasche in den hinteren Teil des Gartens, kletterte über den Zaun und stürmte auf den Wald zu. Den Bach hatte er übersehen, das Eis krachte unter dem Stiefel, hielt aber. Erst unter den ersten Bäumen blieb er stehen. Drehte sich um, wartete auf Lichter, Taschenlampen, Rufe. Hallo, was ist da los? Alles blieb ruhig. Er wartete eine Viertelstunde. Niemand kam.
    Auch Nathanael Weiß wartete. Er stand am oberen Ende der Kellertreppe. Niemand kam. Kein Ingomar Kranz. Auch sonst kein Einbrecher. Das irritierte ihn. Wo blieb Ingomar? Aus dem Keller drang kein Geräusch und kein Lichtschein. Er unterdrückte den Impuls, hinunterzugehen und nachzuschauen, wie es jeder Hausbesitzer tun würde – vielleicht nicht jeder, aber doch wohl die meisten von denen, die wie Nathanael Weiß eine Schrotflinte in Händen hielten.
    Dann kam Ingomar Kranz. Er bemühte sich nicht, leise aufzutreten. Der lernt schnell, dachte Weiß, er zieht die richtigen Schlüsse. Wenn der Krach von vorhin niemanden alarmiert hatte, würden Schritte im Schnee das jetzt auch nicht mehr tun. Ingomar zog die Kellertür hinter sich zu, schaltete seine Taschenlampe ein. Als er die Treppe heraufkam, machte Weiß Licht.
    »Als Einbrecher musst du noch viel üben«, sagte er.
    Ingomar Kranz hob die Hände, nicht um ein Hände hoch! zu befolgen, das Weiß nicht gefordert hatte, sondern als Geste der Resignation.
    »Du siehst nicht enttäuscht aus, warum?«, fragte Weiß.
    Ingomar, da ihm nichts

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