Alles Fleisch ist Gras
Hinweis. Die Hinterlassenschaften von Nathanael Weiß und Ingomar Kranz wurden durchsucht, jeder möglichen Spur nachgegangen, jede Restaurantrechnung und jeder sprichwörtliche Wäschezettel umgedreht. Ohne Ergebnis. Natürlich hatten beide Feinde. Sie auszumachen, war nicht einmal schwer. In den nächsten Monaten sahen sich zahlreiche Personen aus Politik, Wirtschaft und Halbwelt mit einer Fülle unangenehmer Fragen konfrontiert; alte Geschichten, über die längst Gras gewachsen war, wurden von den Ermittlern ausgegraben. Gegen den Chefinspektor Weiß hatten einige amtsbekannte Personen in der Vergangenheit Drohungen ausgestoßen, solche eindeutigen Hinweisefehlten im Falle des Redakteurs Kranz, dafür war die Zahl derer, die Grund hatten, einen Groll gegen seine Person zu hegen, noch höher. Ingomar Kranz hatte in seiner beruflichen Laufbahn keine Gelegenheit ausgelassen, einem Politiker an den Karren zu fahren, wenn das nur irgendwie möglich war. Freunde hatte er nicht.
An Gründen, Weiß oder Kranz in die Luft zu sprengen, fehlte es also nicht, er herrschte ein Überschuss an Motiven, aber ein völliger Mangel an Beweisen, es gab nicht einmal Indizien, die eine oder mehrere Personen mit dem Anschlag in Verbindung gebracht hätten. Ein Rätsel war der absolut unübliche Sprengstoff. Nitroglycerin statt Semtex – das hatte es im internationalen Terrorismus bisher nicht gegeben. Die Substanz war kaum zu handhaben, geschweige denn zu handeln; das deutete auf Herstellung durch einen hochspezialisierten Täter, der bereit war, beträchtliche Risiken einzugehen. Das eine Opfer Polizist, das andere Journalist, beide demselben Anschlag erlegen: Man konnte dies kaum anders erklären, als dass die beiden einer großen Sache auf der Spur waren und sich mächtige Feinde geschaffen hatten. Aber in ihren Unterlagen fand sich kein Hinweis. Den Spekulationen, die im ganzen Land immer wilder wucherten, tat das keinen Abbruch. Die Russenmafia. Die Serbenmafia. Die Türkenmafia. Erst am Ende der Liste die ursprüngliche, die sizilianische Mafia. Am Ende deshalb, weil sich hier überhaupt keine Anknüpfungspunkte fanden – es ließ sich nicht einmal nachweisen, dass Kranz oder Weiß jemals eine Pizzeria aufgesucht hatten.
Was die Tatumstände betraf, ergaben die akribischen Nachforschungen der technischen Abteilung nichts Verwertbares. Zwar fand man den Boden der Flasche, in der das Nitro ins Haus Nummer 20 gelangt war; die Verbindung zur merkwürdigen Liebesgabe des Nikolaus von der Beethovenstraße ließsich aber nicht herstellen, denn auch die anderen Flaschen unterschieden sich voneinander, stammten aus verschiedenen Ländern und wiesen keine Übereinstimmung auf. Ein paar Zeugen hatten den Nikolaus am bewussten Abend aus der Ferne gesehen, es war ihnen sonst nichts aufgefallen; alle Versuche, etwas über den Träger der Verkleidung ausfindig zu machen, blieben ohne Ergebnis. Soweit die geringen Sprengstoffrückstände ausgewertet werden konnten, war das Nitro von ausgezeichneter Qualität gewesen, also nichts im Badezimmer Zusammengepantschtes, wie das oft bei illegalen Substanzen der Fall ist, sondern in einem professionellen Labor hergestellt. Das ließ auf einen psychopathischen Einzelgänger, aber auch auf einen angeheuerten Fachmann schließen; diese beiden Hypothesen führten in entgegengesetzte Richtungen, in der Praxis aber nicht weit: Es gab keinen Täter mit so einem Profil in den Akten und es gab keine Organisation, die an der Beseitigung der beiden Opfer Interesse haben konnte – so endeten die Ermittlungen in einer Sackgasse; fest stand nur eines: Die Opfer hatten sich unter konspirativen Umständen getroffen, dies musste dem oder den Tätern bekannt gewesen sein. Polizeiintern bedauerte man die dienstwidrige Geheimniskrämerei des Nathanael Weiß, der seinen engsten Kollegen das Märchen vom Skiurlaub aufgetischt hatte – »Ohne diese Eigenbrötelei könnte er noch am Leben sein«, sagte der Inspektionskommandant Schoder noch oft in größerer Runde, was mit beifälligem Gemurmel und Seufzen beantwortet wurde, auch wenn es für diese Behauptung keinen Beweis gab.
Auch die Fälle, die Nathanael Weiß bearbeitet hatte, ergaben keinen Hinweis auf das Motiv der Tat. Es gab für viele Menschen stundenlange Befragungen auf der Inspektion, Hausdurchsuchungen und sonstige Unannehmlichkeiten, aber amSchluss fielen alle Gedankengebäude in sich zusammen. Einige hätten ein Motiv gehabt, bei einigen anderen ließ
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