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Alles Fleisch ist Gras

Alles Fleisch ist Gras

Titel: Alles Fleisch ist Gras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Mähr
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mehr geben. Jetzt, wo die Flasche am rechten Ort war. Dem Chefinspektor Weiß und seinen Spießgesellen würde die Lust an Skitouren vergehen, wenn sie sich erst das Haus Nummer 20 in der Beethovenstraße angeschaut hatten. Nach dem Knopfdruck. Nach der kommenden Nacht. Bei Nacht war so etwas immer eindrucksvoller.

    *

    Ingomar Kranz war viel ruhiger, als er befürchtet hatte. Er hatte weniger befürchtet, sondern als sicher angenommen, seine Nerven würden ihm einen Streich spielen, und eine Sammlung von Medikamenten vorbereitet, die beim Steuern eines Fahrzeugs beeinträchtigen würden, aber nicht beim Einbrechen. Das hoffte er. Und jetzt sah es danach aus, dass er den chemischen Cocktail nicht brauchen würde. Er war euphorisch, anders konnte man es nicht nennen. Der Anruf von Anton Galba hatte die lähmende Entschlusslosigkeit mit einem Schlag beendet; er war aus dem Limbo kreisender Gedanken und mangelnder Taten hinauskatapultiert worden. Ganz einfach: Heute Nacht musste es sein. Einen winzigen Augenblick versuchte ein zaghaftes Stimmchen in seinem Hinterkopf die Sache noch einmal zu verschieben, eine letzte, armselige Gnadenfrist herauszuschlagen – warum heute Nacht, wenn Weiß doch erst am Freitag zurückkam? Aber er hatte nicht auf diese Stimme gehört, sie erstickt. Nun schwieg sie, meldete sich nicht mehr mit erbärmlichem Zögern.
    Er packte die nötigen Utensilien in eine Sporttasche. DasSanta-Kostüm, Winterstiefel, den Geißfuß, eine LED-Taschenlampe, Handschuhe. Zum Abtransport der Beute nahm er noch eine große, schwarze Reisetasche mit. Er verstaute alles im Kofferraum und ging spazieren. Er dachte an nichts auf diesem Spaziergang. Betrachtete die Auslagen der Innenstadtgeschäfte, schlenderte über den Marktplatz. Trank einen Glühwein an einer der Buden, aß zwei Krapfen dazu, merkte erst dann, dass es, was letztes Jahr auf dem Weihnachtsmarkt noch nicht der Fall gewesen war, nun auch frische Waffeln gab, und beschloss, diese Neuerung journalistisch auszuwerten. Eine Glosse über das Vordringen des deutschen Geschmacks oder so. Er begann Sätze zu formulieren. Die Waffeln verkniff er sich; er wollte den Magen nicht belasten und ging heim.
    Alles war viel leichter, als befürchtet. Eine große innere Ruhe erfüllte ihn. Alles, was nun kam, war unausweichlich. Dies hatte den entscheidenden Vorteil, dass er nicht mehr dafür verantwortlich war. Theoretisch könnte er die Aktion abblasen, es sein lassen, bis zur letzten Minute. In Wahrheit ging das nicht mehr. In Wahrheit waren die Ereignisse in Gang gekommen wie eine Lawine. Die Ereignisse folgten nun ihren eigenen Gesetzen, niemand und nichts konnte sie aufhalten. Wie der Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Der 1. August 1914 war verstrichen. Nun war es zu spät. Diese Überlegungen erhoben ihn; er schien auf einer unsichtbaren Welle geschichtlicher Bedeutung zu schweben, hoch über allen anderen Menschen, die nichts sahen und hörten. Er würde sich das holen, was Weiß aufgeschrieben hatte, und die Ausbreitung dieser Pest verhindern, er allein. Er würde Weiß und die verrückte Frau zum Stehen bringen. Galba war kein Problem, der stand sowieso auf seiner Seite.
    Gegen halb eins legte er eine Kassette in den Videorekorder ein und nahm das Programm von N24 auf. Nach seiner Rückkehrwürde er sich die Dokumentationen anschauen, die in dieser Nacht gelaufen waren. Nur zur Sicherheit wegen eines Alibis. Er nahm den Lift in die Tiefgarage und fuhr um zwanzig vor eins in die Nacht hinaus.
    Es war kalt, das Thermometer im Auto zeigte fünf Grad unter null. Wenig Verkehr. Hochnebel, der vom diffusen Licht der Stadt von unten angestrahlt wurde, nicht von oben. Der Mond würde erst um drei aufgehen, er hatte im astronomischen Kalender nachgesehen. An der Ach war es dunkel. Er bog in einen Forstweg ein und parkte den Wagen nach ein paar hundert Metern an einem Holzlagerplatz. Der Boden war vereist. Er zog das Santa-Kostüm an, auch den Bart und die Zipfelmütze. Schwarze Handschuhe. Eine Erscheinung für einen Spaziergänger; aber hier im Wald gab es niemanden um diese Zeit, keine Spaziergänger und keine Jogger. Nach kurzem Marsch betrat er den Asphalt der schmalen Straßen in der Stadtrandsiedlung; man hatte gesalzen und gestreut, der Untergrund war schwarz, gefroren und trocken. Hier konnte ihm jemand begegnen, das Santa-Kostüm machte ihn unerkennbar. Mittlere Größe, Kapuzenkappe, weißer Vollbart bis zu den Backenknochen rauf. Er hatte im Vorfeld

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