Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben
1
Das bringt mich noch um
So habe ich mir meine Beerdigung eigentlich nicht vorgestellt. Vor allem habe ich immer gedacht, dass ich alt wäre, eine würdevolle Neunzigjährige, die verdientermaßen als Dame bezeichnet wurde; eine hochbetagte Frau im trauten Kreis ihrer Lieben, die sich in Trauer vereint um ihren Sarg versammeln und zärtlich Abschied von ihr nehmen.
Und ich habe natürlich gehofft, dass das alles in einem viel schöneren Rahmen stattfindet – in einer Steinkapelle am Meer vielleicht, dessen purpurgraue Wogen tosend ans Ufer schlagen und das Schluchzen der Trauernden übertönen. Aus unerfindlichen Gründen – ich bin nicht mal Schottin – erklingen wehklagende Dudelsackweisen, die Männer tragen das Schottenmuster des Campbell-Clans und entzückend scheue Enkel, oder sogar Urenkel, sagen rührende kleine Gedichte auf. Woher die Kinder die roten Locken haben, weiß ich nicht, mein Haar ist glatt und blond, dank den Segnungen der Chemie sogar hellblond. Die Hinterbliebenen – unglaublich, dass diese verweinten ältlichen Gestalten meine eigenen Kinder sein sollen – tupfen sich mit Leinentaschentüchern die Tränen ab, obwohl sie sonst nur Papiertaschentücher benutzen. Der Gottesdienst findet kurz vor Sonnenuntergang statt, und die Luft ist erfüllt von Fliederduft. Frühling. Zumindest dort, wo ich aufgewachsen bin, am Stadtrand von Chicago, kündet der Flieder vom Frühling: vom Ende eines langen Winters, vom erneut aufblühenden Leben.
So etwas wie das hier habe ich jedenfalls nicht erwartet, diese düstere Synagoge in Manhattan. Und schon gar nicht, dass ich umgeben bin von über vierhundert Leuten, von denen etwa dreihundert,soweit ich mich erinnere, nie ein einziges Wort mit mir gewechselt haben. Doch vor allem eins habe ich garantiert nicht erwartet: dass ich noch so jung bin. Okay, fünfunddreißig halten manche vielleicht nicht mehr für jung. Ich schon. Auf jeden Fall ist es kein Alter zum Sterben, denn nur weil mein Leben nicht mehr ganz taufrisch ist, muss es ja nicht gleich zu Ende sein.
Ist es aber.
Sie ist tot,
denken sicher all diese Leute auf den Sitzbänken.
Wie schrecklich.
Im letzten Punkt irren sie sich. Würden die Trauergäste meine ganze Lebensgeschichte kennen – was irgendwann hoffentlich der Fall sein wird, denn die Leute sollen auf meiner Seite stehen, nicht auf seiner, und schon gar nicht auf
ihrer
–, wäre ihnen klar, dass ich, Molly Divine Marx, nichts an
joie de vivre
eingebüßt habe. Und das ist wirklich wahr.
»Sie wäre hier, wenn sie könnte«, sagt jemand. »Sie wäre hier, wenn sie könnte.« Das ist Rabbi Strauss Sherman, der da zu meiner Rechten salbadert. Wenn doch bloß der witzige junge Rabbi die Trauerrede halten würde, an dessen Kursen ich immer mal teilnehmen wollte – nicht, dass ich »Die Musik der Juden in Uganda« so enorm interessant finde …
fand
. Doch der alte Rabbi spricht, der, der immer alles zweimal sagt, wie sein eigenes Echo, auch wenn die Worte schon beim ersten Mal nicht gerade tiefschürfend waren. Vermutlich sollte ich begeistert sein, denn dieser Rabbi ist ein richtig hohes Tier, einer, der von den Leuten nach Hause eingeladen wird, die Unsummen spenden und daher an Feier- und Trauertagen auch eine besondere Würdigung verdienen. Ob Barry, mein Ehemann, dafür gesorgt hat, dass Rabbi Strauss Sherman heute spricht? Um mir eins auszuwischen, weil ich bei dessen Predigten immer die Augen verdreht und vor mich hin gemurmelt habe: »Das bringt mich noch um.« Obwohl es natürlich auch die Rache Gottes sein könnte, doch der Gedanke gefällt mir überhaupt nicht.
Ich merke schon, ich bin weder dem Rabbi noch dem tief betrübten Ehemann gegenüber so richtig nett. Dem läuft vor lauter Heulerei schon der Rotz aus der Nase, und nicht wenige Trauergästehaben gesehen, wie er sie sich diskret am Ärmel seines gut geschnittenen schwarzen Anzugs aus feinem Kammgarn abgewischt hat. Armani?, haben sie sich gefragt. Weit gefehlt. Eine ziemlich getreue Kopie aus einem Outlet in der Nähe von Mailand. Aber wenn sie das Ding für einen Armani-Anzug halten, freut Barry sich. Genau so war’s gedacht.
Einige der Frauen auf den Sitzbänken fragen sich sicher auch, was ich trage, denn der Sarg ist geschlossen – heute ist irgendwie nicht mein Tag. Also, ich werde in einem roten Kleid beerdigt … na gut, es ist eher burgunderfarben. Trotzdem kann ich mir ein Grinsen (wenn auch leider nur sinnbildlich) nicht verkneifen, weil ich
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