Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alles Fleisch ist Gras

Alles Fleisch ist Gras

Titel: Alles Fleisch ist Gras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Mähr
Vom Netzwerk:
konnte buchstäblich überall auf der Welt sein – genau wie der Herr des Geldes, Ludwig Stadler. Ein Journalist der größten Tageszeitung erhielt einen anonymen Hinweis auf den Fall jenes Buchhalters, der vor etwa zwanzig Jahren, nach Unterschlagungen im großen Stil, seinen Selbstmord am Bodenseeufer vorgetäuscht hatte. Durch die Politik der geschriebenen Andeutungen und geflüsterten Gerüchte verfestigte sich landauf, landab der Konsens: Von diesem Polizisten die Ex hat einen Betrüger geheiratet, der sich jetzt mit einem Riesenhaufen Geld verdünnisiert hat.
    Diesmal trafen sie sich nicht in einem Kaffeehaus, sondern bei Adele zu Hause. Weiß hatte befürchtet, das Verschwinden Stadlers werde bei dessen Frau eine jener unlogischen Reaktionen hervorrufen, wie sie beim weiblichen Teil der Menschheit so häufig sind – eine Aufwallen irgendwelcher Mutter- oder Beschützerinstinkte. Die Psyche wird umgepolt, alles wird vergessen, was am Opfer widerwärtig gewesen ist, seine bescheidenen positiven Seiten ins strahlendste Erinnerungslicht gerückt. Weiß hatte das in anderen Fällen erlebt. Bei Adele war es nicht so. Sie war bei seinem Verschwinden nicht einmal entsetzt, sie lief nur ein paar Tage herum wie in einem Nebel, als er sich lichtete, als die ersten Hinweise auf den vorgetäuschten Selbstmord auftauchten (besser: als Weiß diese Hinweise hatte auftauchen lassen), erwachte sie wie ausschwerem Schlaf, ein bisschen verkatert , wie sie Weiß sagte, der sie zu diesem Zeitpunkt schon wieder regelmäßig in ihrem Haus aufsuchte, als ob sie am Vorabend ein, zwei Gläser zu viel getrunken hätte . Keine Spur von tiefem Leid.
    Etwas irritierend blieb, mit welcher Leichtigkeit, vor allem aber: Geschwindigkeit sie den Stadler aufgab. Den eigentlichen Schock hatte Adele durch die Fotos erlitten; was danach kam, sein Verschwinden, die unappetitlichen finanziellen Details – das war nur noch zum Drüberstreuen, als habe er es mit seinem Verhalten darauf angelegt, ihre Ablehnung hundertprozentig und jede Wiederannäherung unmöglich zu machen. Die öffentliche Meinung über Ludwig Stadler unterschied sich kaum von der privaten der Adele Stadler. Nach ihrer Anzeige galt er als vermisst, die Bezeichnung traf auf keinen Vermissten der letzten Jahrzehnte so wenig zu wie auf den Bauunternehmer. Er galt als vermisst, aber er wurde nicht vermisst. Er hatte keine Geschwister und wenig Verwandte, zu denen er als Alleinerbe der Firma ein so distanziertes Verhältnis pflegte, dass auf dieser Seite von Trauer oder gar Schock nicht gesprochen werden konnte, wie Hiebeler bei seinen Routinebefragungen herausfand. Seine Cousins und Cousinen schienen ihn nicht nur nicht zu vermissen, sondern im Gegenteil froh zu sein, dass er weg war.
    »Er ist höher aufgestiegen als sein Umfeld«, sagte Weiß zu Anton Galba. Sie saßen auf der Terrasse des Hotels Rickatschwende und genossen den Blick über das Rheintal. Um es zu präzisieren: Genießen tat den Blick Chefinspektor Weiß, bei seinem Gegenüber konnte davon keine Rede sein. Ing. Galba fühlte sich unwohl. Weiß hatte ihn angerufen, um ein bisschen zu plaudern , wie er sich ausdrückte, und ihn an diesem schönen Samstag zum Essen ins weithin bekannte Hotelrestaurant eingeladen. Das Essen war auch gut gewesen, Lammrückenmit Brokkoli, Weiß hatte das bestellt und Galba dasselbe genommen, weil er so angespannt war, dass er sich nicht auf Einzelheiten der Speisekarte konzentrieren konnte. Jetzt saßen sie beim Kaffee auf der Terrasse. Weiß schaute auf den Bodensee, der sich im Nordwesten bis zum Horizont erstreckte; es war einer der Tage, da man an diesem Horizont sogar die Aufteilung in Untersee und Gadensee unterscheiden konnte. Galba blickte auf seine Kaffeetasse und überlegte, was er schon während des Essens überlegt hatte: Was wollte Weiß von ihm?
    »Genau das ist es nämlich«, setzte Weiß fort, der von Galba keine Kommentare zu erwarten schien. »Dieses Aufsteigen und dann Angeben. Damit macht man sich keine Freunde, nirgendwo. Aber hier, wo der Neid so weit verbreitet und so tief verwurzelt ist, dass man nicht mehr weiß, ob man noch von einem Laster oder schon von einer Tugend sprechen soll – hier führt so ein Verhalten zu völliger sozialer Isolation.«
    »Aha«, sagte Galba.
    »Ja, so ist das. Glaub’s oder nicht, aber Hiebeler hat mir gesagt, er hat keinen einzigen Menschen getroffen, der Ludwig Stadler auch nur eine Träne nachweint. Alle sind froh, dass er weg ist,

Weitere Kostenlose Bücher