Alles Fleisch ist Gras
gestoßen waren – er muss davon gewusst haben, dachte Galba, er kennt den Weg. Und er hat in völliger Dunkelheit zur rechten Zeit von der Innenseite des Rheindamms auf die Außenseite gewechselt; die Müllanlage kann kein Anhaltspunkt gewesen sein. Die war von der Wasserseite unterhalb der Dammkrone nicht zu sehen. Wenn das so ist, überlegteGalba, hat der Kerl nicht nur ein außerordentliches Orientierungsvermögen – er muss die Strecke auch schon mehrere Male gegangen sein. Er schloss zu ihm auf.
»Machst du oft solche Nachtspaziergänge?«
»Warum?«
»Weil du den Weg gleich getroffen hast.«
»Ich hatte die Karte im Kopf, und ich weiß, wie schnell ich gehe. Das ist nichts Besonderes. Nur gute, alte Gendarmerieausbildung, Orientierungsläufe und so …« Er blieb stehen, zog einen Flachmann aus der Innentasche des Jacketts, schraubte die Flasche auf. Er nahm einen Schluck, reichte sie an Galba weiter. Der roch an der Öffnung. Rum. Aber nicht der billige Haushaltsrum, da waren noch andere, schwer zu beschreibende Aromen. Galba nahm einen Schluck. Ein mildes Destillat mit markantem Abgang.
Weiß nahm die Flasche, einen Schluck, gab sie zurück und antwortete etwas, Galba hörte nicht zu, trank selber. Er staunte darüber, wie schnell er besoffen wurde, es ging wie im Zeitraffer. Schon stritten sie sich wie zwei alte Wermutbrüder, schon war dieser rituelle Klang in ihren Reden, der keifende Ton wie ein Singsang, der nur durch jahrelange, immer gleich verlaufende Auseinandersetzungen am Güterbahnhof entsteht, wo die Hoffnungslosen sich an ihrer Flasche festhalten – aber da war auch der Unterschied: Diese Leute hatten jeder eine eigene Flasche, sie beide, Weiß und Galba, nur eine, die sie sich immer wieder gegenseitig reichten; das ist nicht echt, dachte Galba, wir tun nur so, als ob wir hartgesottene Säufer wären. Um zu verdecken, dass wir hartgesottene …
Weiß steckte die Flasche ein. »Weiter«, sagte er, »es ist noch ein gutes Stück.« Sie gingen weiter. Mehr ein Schwanken und Stolpern als ein Gehen; ebene Feldwege quer durchs Rheintal. Sie begegneten niemandem. Nach Stunden erreichten sie dieARA, bestiegen ihre Autos und fuhren los, jeder in seine Richtung.
Der Audi des Ludwig Stadler wurde schon am nächsten Tag von verschiedenen Personen bemerkt, aber nicht gemeldet. Man dachte an einen Wanderer, Angler oder Biker, der an den Rheinspitz gefahren und nun irgendwo im Bereich der Fussacher Bucht zu Fuß, mit Rad oder Angelzeug unterwegs war. Es verging noch ein ganzer Tag, bis das Auto am Posten in Höchst gemeldet wurde, inzwischen war Adele schon bei der Dornbirner Polizei gewesen, so konnte der Zusammenhang schnell hergestellt werden. Der Wagen wurde sichergestellt, ebenso die Jacke, Adele Stadler musste sich der traurigen Pflicht unterziehen, beides als ihrem Mann gehörig zu identifizieren. Aufnahmedienst hatte der Kollege Hiebeler. Sie litt, Chefinspektor Weiß war natürlich als Exmann der Frau Stadler nicht involviert, aber was passierte, bekam er mit.
Während es im älteren Fall des Laboranten keine Spuren gab, Interpolanfragen keine verwertbaren Hinweise erbracht hatten, war der Fall des Bauunternehmers am anderen Ende des Spektrums angesiedelt. Zwar förderte eine sofort eingeleitete Suchaktion im Bodensee nichts zutage, aber das war zu erwarten und kein Grund zum Pessimismus. Bei solchen Aktionen fand man nie etwas. Der See gab seine Opfer nach ein paar Wochen von selber wieder her, meistens im unteren Teil am deutschen Ufer, oder er behielt sie für immer. Im Fall Stadler kam aber bald der Verdacht auf, es gebe vielleicht gar kein Opfer: Bei der Überprüfung der finanziellen Verhältnisse stellte sich heraus, dass die Unternehmungen Stadlers lang nicht so gut gelaufen waren, wie das alle Welt einschließlich seiner Mitarbeiter und seiner Frau Adele angenommen hatten. Die Hausbank Stadlers hatte ihm mit dem Verweis auf neue EU-Kreditvorschriften einen großen Kredit fällig gestellt –nachdem sie ihn nur zwei Jahre zuvor zur Expansion und Anschaffung teurer Maschinen nicht nur ermutigt, sondern diese beträchtlichen Ausgaben vorfinanziert hatte. Dazu kamen Forderungen der Krankenkasse und Meinungsverschiedenheiten mit dem Finanzamt bezüglich gewisser Zahlungen – in Summe eine Masse Geldärger. Man entdeckte auch, dass über Jahre hinweg erhebliche Beträge aus dem Firmenvermögen entnommen worden waren; wo dieses Geld sich jetzt aufhielt, blieb allerdings verborgen. Es
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