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Alles Fleisch ist Gras

Alles Fleisch ist Gras

Titel: Alles Fleisch ist Gras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Mähr
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Kuranstalt, eine Heiltherme und ein Vier-Stern-Gesundheitshotel. Für Nathanael war die Kuranstalt vorgesehen, wo die St. Barbara Heilquelle »mit vierunddreißig Grad aus der Erde sprudelt«, wie die Homepage zu berichten wusste. In diesem mineralreichen Wasser würde Nathanael baden. Und er würde sich massieren lassen.
    Für viele, die das erste Mal auf Kur kamen, war Vigaun eine einschneidende Erfahrung, ein völliger Wandel ihrer Lebenssituation. Für Chefinspektor Weiß war es das natürlich nicht. Die Station hatte für ihn den Charakter einer Kaserne, an strukturierte Abläufe war er durch monatelange Anwesenheit in verschiedenen Polizeischulen gewohnt. Die Verantwortlichen hätten sich gegen den Ausdruck Kaserne gewehrt; erwar auch ungerechtfertigt, aber ein Hauch davon schwebte sogar in der Beurteilung eines Wellnessführers , den Nathanael vor Kurantritt konsultierte; dort war zu lesen, die Mehrheit der Gäste sei Sozialversicherungspublikum – da pass’ ich hin, dachte Nathanael Weiß, Sozialversicherungspublikum bin ich selber.
    Es war langweilig.
    Er ging baden, dann zur Massage. Dreimal am Tag gab es Essen in ansprechender Qualität. In den freien Stunden ging er spazieren. Es gab Hügel und Wälder. Die Rückenschmerzen waren am ersten Tag verschwunden, nach dem Einchecken und noch vor der allerersten Kuranwendung. Nathanael war das peinlich, sein Rücken machte ihn zu einem Sozialschmarotzer, der auf Kosten der Allgemeinheit nicht vorhandene Leiden »auskurierte«; der behandelnde Arzt, ein Dr. Mühlbauer aus Oberösterreich, musste seine ganzen Überredungskünste aufwenden, um den Chefinspektor von der sofortigen Heimreise abzuhalten. Die Kur werde ihm in jedem Fall guttun, sagte er, solche Fälle gebe es mehr, als den Ärzten lieb sei, niemand halte ihn, Nathanael Weiß, für einen Simulanten, woran das alles liege, wisse die Medizin noch nicht.
    Nathanael blieb.
    Er lernte eine Menge Leute aus allen sozialen Schichten kennen, das war für ihn auch nichts Neues. Und alle harmlos. Bis auf einen. Hopfner.
    Gerhard Hopfner war ihm schon am ersten Tag aufgefallen. Durch nichts. Er hätte nicht sagen können, was an diesem Hopfner ins Auge stach, welches Merkmal er an sich hatte, das andere nicht hatten. Hopfner war nicht der Erste, der in diese Kategorie fiel. Es gab solche Menschen nicht allzu häufig, aber ausgesprochen selten waren sie auch nicht. Sie stammten aus allen Kreisen, gehörten beiden Geschlechtern an, warengroß oder klein, gerissen oder dumm, blond, braun oder schwarz behaart. Was sie einte, war der forschende Blick des Chefinspektors Weiß, der nach diesem einen Blick wusste, woran er war. Er hatte versucht, mit allen denkbaren Rationalisierungen und gedanklichen Konstruktionen mit diesem Phänomen fertigzuwerden, die Sache auf irgendeine Art wegzuerklären, gelungen war ihm das nicht, so dass er sich endlich, ohne davon zu einem Menschen gesprochen zu haben, mit jener Erklärung zufrieden gab, die ihm als erste eingefallen war.
    Diese Menschen hatten den bösen Blick.
    Er hatte darüber nachgelesen, aber nichts in der Literatur stimmte mit dem überein, was er empfand, wenn er solchen Menschen in die Augen sah. Es gab keine unnatürlichen Augenstellungen, kein Schielen, kein Muskelzittern oder sonst ein Symptom, das mit diesem Blick assoziiert gewesen wäre, solche Behauptungen aus dem Volksaberglauben ließen sich nie bestätigen. Er konnte eben nicht sagen, was es war, was er da sah, er spürte es nur mit absoluter Sicherheit, wenn es da war – ein Etwas, ein Flair, nicht wäg- und messbar. Es stimmte auch nicht, dass diese Individuen bei anderen Menschen Krankheiten und Verderben auslösten; das Verderben kam zwar mit Sicherheit, aber von ihren Handlungen, nicht durch ihren Blick. Der böse Blick war nur Symptom einer tiefgreifenden moralischen Störung, wie der Geruch nach Azeton Zeichen einer Stoffwechselstörung ist. So harmlos, angepasst und freundlich diese Menschen auch sein mochten – unfehlbar verstrickten sie sich und andere in ethisch fragwürdige Angelegenheiten. Oder sie übten Gewalt. Das war das Häufigste: der Ausbruch einer zerstörerischen Energie, die dann die Biedermanns-Maske für immer zerriss, freilich um den Preis schwerer Verletzungen anderer. Diese Störung hattenichts mit dem allen Menschen gemeinsamen Hang zum Bösen zu tun, von dessen Existenz Chefinspektor Weiß überzeugt war. Die grundlegende Bosheit des Menschengeschlechtes sah er für sich

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