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Alles Fleisch ist Gras

Alles Fleisch ist Gras

Titel: Alles Fleisch ist Gras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Mähr
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von Anton Galba, der wohl den Weg des einen, den des anderen nie gekreuzt hatte. Ihre Bilder würden immer blasser, ihre Gestalten immer kleiner werden. Wie die Figuren, die am Bahnsteig stehen und winken – früher gewinkt haben, als man die Waggonfenster noch öffnen konnte. Heute winkte kein Mensch mehr, es war ja sinnlos, wenn der Reisende den Zurückbleibenden gar nicht sah … Wie kam er auf dieses Bild? Er war seit Jahren nicht mehr Eisenbahn gefahren. Weiß war aufgestanden, Galba tat es ihm gleich. Er fühlte sich müde, etwas betrunken von dem schweren Rotwein, den Weiß zum Lammrücken bestellt hatte.
    Sie gingen zu ihren Autos.
    »Ich habe«, sagte Chefinspektor Weiß, »über deine Fragen lang nachgedacht. Es sind gute, berechtigte Fragen. Ich kann sie jetzt beantworten. Wer bestimmt, wer was taugt? Du und ich, Toni. Klingt zu einfach, ich weiß, weil wir gewohnt sind, alle möglichen Kommissionen und Fachleute einzusetzen undExpertisen einzuholen und den ganzen Kokolores … Wir beschäftigen ein Heer von Psychologen, Soziologen und weiß der Geier was sonst noch für -logen, aber warum? Weil wir ohne diese Leute nicht wüssten, was los ist in der Gesellschaft? Aber nein, das wissen wir sehr genau. Ich weiß es, du weißt es, jeder, den du hier auf der Straße fragst, weiß es. Natürlich: Die meisten streiten es ab, behaupten, sich nicht auszukennen, und so weiter. Alles Ausflüchte. Wahr ist: Die meisten Menschen, fast alle, können ihre Mitmenschen sehr gut einschätzen. Wer nützlich, angenehm und so weiter und wer das eben nicht ist.« Sie hatten die Autos erreicht. Weiß sperrte seines auf, einen älteren Subaru Forrester, und öffnete die Tür. »Das siehst du doch ein, oder? Darum ist es auch gar keine Kunst, einen Konsens herzustellen. Jeder könnte das, es müssten nicht wir zwei sein, wir sind das nur durch den Zufall der Verhältnisse. Es kann ja auch jeder ein faules Ei von einem guten unterscheiden. Mit der Nase, das hat die Natur so eingerichtet. Das ist, ich sag es noch mal, keine Kunst.«
    »Das heißt«, sagte Anton Galba, dem dabei die Stimme versagte, Weiß hörte ihn trotzdem.
    »Das heißt, dass sich die zweite deiner Fragen von selbst beantwortet. Ja, Verschwinden ist die adäquate Weise des Umgangs mit diesen Individuen. Oder was empfiehlst du den Bürgern bezüglich fauler Eier? Einfrieren?«
    »Nein, ich …« krächzte Galba.
    »Würde ja auch nichts nützen, der Prozess wird nur aufgehalten, das Problem auf später verschoben. Genau das haben wir jahrzehntelang gemacht. Die Leute in irgendwelchen Einrichtungen eingefroren . Gefängnisse, Anstalten, was weiß ich. Das bringt nichts. Nein, faule Eier schmeißen wir als brave Bürger in den Biomüll. Der kommt dann zu dir in diese famosen Türme und erzeugt Methan …«
    »Biomüll«, sagte Galba. Seine Stimme war wieder klar und sehr leise. »Biomüll.« Er wiederholte das Wort, als habe er es beim Deutschstudium durch Zufall im Lexikon entdeckt, ein seltsames, anziehendes, auch gefährliches Wort, wer weiß?
    »Es hat noch nicht aufgehört, Toni«, sagte Weiß beim Einsteigen. »Es fängt erst an. Große Taten stehen uns bevor. Ja, lach ruhig, ich weiß, klingt geschraubt. Pathetisch.« Galba war nicht nach Lachen.
    »Die Wahrheit ist pathetisch, Toni. Ich zähle auf dich.« Er zog die Tür zu und fuhr los. Nach fünf Metern grüßte er mit der Hupe, trat aufs Gas und verließ den Parkplatz des Kurhotels Rickatschwende mit fast durchdrehenden Reifen und einem Schwung, der weder zu seinem Auto noch zu seinem Alter passte.
    Anton Galba blieb eine Weile neben seinem Wagen stehen und fuhr dann dieselbe Strecke auf die Straße hinaus wie ein sehr alter Mann.

4

    Chefinspektor Nathanael Weiß verschwand für vier Wochen in Bad Vigaun in Salzburg. Von der dortigen Barbaraquelle erwartete sich Nathanaels Orthopäde Dr. Rösch eine spürbare Besserung der Beschwerden, wenn nicht sogar vollständige Heilung – immerhin, versicherte er Nathanael, halte er diese für möglich, gerade in solchen Fällen, wo keine sichtbaren CT-Befunde vorliegen. Es gebe ermutigende Beispiele. Dr. Rösch redete auch sonst nicht um den heißen Brei herum, also vertraute ihm Nathanael Weiß: Wenn der Doktor sagte, die Barbaraquelle bewirke Wunder, manchmal halt, dann sollte man sie probieren.
    Das Medizinische Zentrum Bad Vigaun lag nur siebzehn Kilometer von der Stadt Salzburg entfernt im Tennengau. Es gab dort eine Klinik, ein Reha-Zentrum, eine

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