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Alles Fleisch ist Gras

Alles Fleisch ist Gras

Titel: Alles Fleisch ist Gras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Mähr
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Verrückten auch nicht zwingend.
    »Hast du eine Taschenlampe mit?«, fragte er.
    »Nein, wieso?«
    Galba gab keine Antwort. Wenn Weiß ihn umbringen wollte, war völlige Dunkelheit dabei hinderlich. Galba würde einfach ins Dunkel laufen, sobald der Wagen hielt, weg vom Fluss. Der Rhein hatte Hochwasser, sie konnten ihn hören. Galba würde nichts sehen, aber Weiß würde auch nichts sehen. Und nicht wagen, auf gut Glück ins Finstere zu schießen.
    Sie hielten an und stiegen aus. Es war keineswegs so dunkel, wie Galba gehofft hatte. Sie waren zuletzt ein Stückchen aufwärts gefahren und auf die Dammkrone eingebogen. Vor ihnen führte der Damm weiter ins Dunkel, auf dem Damm der Fahrweg. Links und rechts dehnte sich Wasser, auf der linken Seite war es ruhig, auf der rechten dröhnte es zu ihnen herauf, sehr nah. Die Fussacher Bucht und der Rhein. Der ging so hoch, dass sein Vorland überschwemmt war, sein neues Ufer lag ein paar Meter vor ihren Füßen. Der Strom würde weitersteigen, hatte Galba im Radio gehört. Der Damm zwischen den Wassern sah schmal aus und zerbrechlich. Er sollte den Rhein daran hindern, seine ungeheuren Geschiebemassen gleich hier in den Bodensee zu entleeren. Er tat das nun zwei Kilometer weiter draußen, wo der See schon tiefer war;ohne den Damm wäre die Fussacher Bucht schon jetzt verlandet, zugeschüttet von Gletschergeröll. Der Damm musste jedes Jahr vorgestreckt werden, aber nützen würde es nichts, dachte Galba. In zehntausend Jahren wäre nicht nur die Fussacher Bucht verlandet, sondern der ganze See – ein einziger, riesengroßer Sumpf, in dem der Rhein in zahllosen Verzweigungen träge auf das nicht mehr existente Schaffhausen zulief …
    »Was ist?«, fragte Weiß.
    »Nichts«, sagte Galba. Er trat ein paar Schritte vom Auto zurück. Weiß holte die Jacke aus dem Fond des Wagens und entfernte die Folien von den Vordersitzen. Dann warf er die Jacke auf den rechten Sitz, knüllte die Folien zusammen und steckte sie ein.
    »Fertig«, sagte er. »Gehen wir.« Galba war perplex.
    »Wohin?«
    »Na, heim! Wir gehen nach Hause.«
    »Zu Fuß?!«
    »Es steht dir natürlich frei, mit dem Handy ein Taxi herzubeordern. Aber würde das nicht komisch aussehen, wenn du dich ausgerechnet an jenem Ort vom Taxi abholen lässt, wo der bedauernswerte Ludwig Stadler beschlossen hat, seinem Leiden in den Fluten des Rheins ein Ende zu machen? Da kämen doch die Leute auf alle möglichen Ideen! – Vamos!«
    Sie kamen gut voran. Jedes Auto auf dem Zufahrtsweg würde sich durch die Scheinwerfer schon von weitem ankündigen. Nach einer Stunde erreichten sie die Höchster Brücke. Es war spät. Kaum Verkehr. Zwei nächtliche Spaziergänger auf der Rheinbrücke fielen nicht auf. Auf der anderen Seite des Rheins angekommen, mieden sie die Straße, die am rechten Damm entlangführte, und bewegten sich knapp unterhalb der Krone auf der Innenböschung. Das Gehen im hohen Graswar mühsam, ab und zu strauchelte Galba, weil er in eine Unebenheit getreten war, der Himmel hatte sich zugezogen, der Rhein zu ihrer Rechten war nur zu hören, nicht zu sehen, es herrschte tiefe Nacht. Weiß marschierte voran, Galba stolperte hinterher, der Chefinspektor blieb stehen, wenn Galba zu weit zurückgefallen war. Gesprochen wurde nichts. Galba hörte aus dem Dunkel zur Rechten über dem tiefen Tosen des hoch gehenden Rheins das Gurgeln der zahllosen Wirbel, die sich am Rand bildeten, keine fünf Meter entfernt. Wer auch nur mit einem Fuß in dieses Wasser trat, hatte gute Chancen, weggeholt zu werden; die Böschung war steil, hinter der unsichtbaren Wasserlinie ging es gleich ins Tiefe, Reißende.
    Nach einer Zeitspanne, die Galba nicht abschätzen konnte, eine halbe Stunde, vielleicht auch mehr, wechselte Weiß nach links auf die Dammkrone, stieg auf der Außenböschung zur Straße hinunter, Galba folgte ihm. Weiß überquerte die Straße, betrat das Feld auf der anderen Seite.
    »Weißt du eigentlich, wo du hingehst?«, fragte Galba.
    Weiß drehte sich nur halb um, gab eine einsilbige Antwort, die Galba nicht verstand, und ging weiter. Es war eine Wiese, das Gras stand hoch. Links konnte Galba die Lichter der Müllverwertungsanlage erkennen, die Hallen, den dunklen Rücken des künstlichen Berges aus Restmüll, der dort aufgeschüttet war. Nach einer Weile veränderte sich der Untergrund, sie schritten jetzt auf einem Wiesenpfad, kamen schneller voran. Ein Zufall konnte das nicht sein, dass sie genau hier auf das Weglein

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