Alles Fleisch ist Gras
Familie Zweifel am Bestehen hege, obwohl man ja vorher nie wissen könne … dass die Stadt leider Probleme wegen des Kostenvoranschlags für dasneue Nachklärbecken mache, aber die Gröschlerei sei unter diesem Bürgermeister ja zu erwarten gewesen … Harlander hörte genau zu, die schulische Karriere der jüngeren Galbatochter schien ihn wirklich zu interessieren und auch die finanziellen Querelen bei der Reinigung des Dornbirner Abwassers. Als Galba dies alles erzählt hatte, sagte er: »Und bei dir?« Harlander zuckte die Achseln, deutete mit vager Geste in Richtung Wartezimmer. Das war voll wie immer. »Du siehst ja …« Als Arzt konnte er es bei summarischen Äußerungen belassen, endlose, ermüdende Arbeit, niemand erwartete etwas Genaueres, das wollte man gar nicht wissen, Galba ging es genauso. Erst jetzt, nach zehn Minuten sozialem Vorgeplänkel, begann die Konsultation.
»Und«, sagte Dr. Harlander, »was führt dich zu mir?«
Galba erzählte von seinem Traum, von seinem Unvermögen. Von Helga erzählte er nichts, das Unvermögen konnte sich ja auch bei seiner Frau gezeigt haben, das andere ging den Gebhard nichts an.
»Immer derselbe Traum?«
»Immer derselbe.«
»Wie oft hast du den?«
»Jede Woche, manchmal zweimal …«
Dr. Harlander lächelte. »Der Traum beschreibt eine Kastration, das ist ja klar.« Für Galba war es das nicht.
»Wieso Kastration? Der Mann steckt mit den Füßen voran in der Maschine.«
»Ja, wie deutlich soll das Unbewusste denn noch werden? Du weißt, ich halte nicht übertrieben viel von der Psychologisiererei, alles an seinem Platz, sag ich immer – aber in diesem Fall … Das ist ja lehrbuchmäßig. Freud hätte dich damals sicher in die ›Traumdeutung‹ reingenommen, ein viel besseres Beispiel als der Wolfsmann, wenn du mich fragst.« Galbawusste nicht, was es mit dem Wolfsmann auf sich hatte, er ahnte aber eine Lücke. Einen Ausweg, durch den er schlüpfen konnte.
»Und warum träum’ ich so was Verrücktes?«, fragte er.
»Bestrafung. Das ist das Erste, was mir einfällt. Selbstbestrafung, verstehst du?« Er beugte sich etwas vor. »Du machst irgendetwas Sexuelles, nein, lass mich ausreden …«, Galba hatte nicht mit der winzigsten Geste angedeutet, dass er den Arzt unterbrechen wolle, »… etwas von der Regel Abweichendes. Diese massive Verbindung von Traum und Potenzproblemen weist darauf hin, dass es sich nicht um einen unbewussten Wunsch handelt, der dir selber noch nicht klar ist, sondern um etwas Manifestes, Gelebtes. Können wir aufbrechende Homosexualität ausschließen?«
»Können wir.«
»Auch bisher nicht gekanntes Interesse für sehr junge Mädchen?«
»Für sehr junge, ja, kannst du ausschließen.«
»Bleiben die älteren …«
»… schon älter als die, die du meinst, du hast es erfasst.«
Das war der Ausweg. Galba fühlte sich von einem Glücksgefühl durchpulst, so etwas hatte es schon lang nicht mehr gegeben. Selbstbestrafung wegen seiner Affäre mit Helga. Galba wusste von Fremdgehern und -geherinnen nur aus Klatschgeschichten, die ihm von seinem gesellschaftlichen Umfeld zugetragen wurden, das heißt vom Umfeld Hildes, die hatte viele Freunde und Bekannte. Das Thema hatte ihn nie interessiert; dennoch glaubte er annehmen zu dürfen, dass zwar dauernd von Schuld die Rede war (»… Er ist ja selber schuld, warum hat er nicht …«, »… Da ist sie schon auch schuld …«, »… Wenn du mich fragst, das konnte nicht gutgehen, schuld sind beide …«) – aber nie von Bestrafung, geschweigedenn Selbstbestrafung. Er wäre ein Ausnahmefall, einer unter tausend vielleicht. Dr. Harlander schien das für plausibel zu halten.
»Sie ist jünger, oder?«
»Deutlich.«
»Ja, das kommt vor …«
»… Midlife, ich weiß.«
»Genau! Du hast ein rigides Über-Ich, das eine derartige Abweichung einfach nicht duldet, verstehst du?«
»Rigides Über-Ich, klar.« Galba lächelte. In gewisser Weise trafen die Schlüsse der Wald-und-Wiesen-Psychologie des Dr. Harlander sogar zu. Diese Träume schickte das Über-Ich, wer sonst? Nur war sein Über-Ich längst nicht so pingelig, wie Dr. Harlander sich das vorstellte. Dass er, Galba, aushäusig vögelte, war dem Über-Ich monatelang völlig schnurz gewesen; erst als der Galba ein Unfallopfer entsorgte und dann noch bei der Entsorgung eines zweiten – in diesem Fall kein Unfall – mithalf, da hatte sich das Über-Ich des Anton Galba einen Ruck gegeben und beschlossen, dass – leider, leider! –
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