Alles Fleisch ist Gras
wächst mit seinen Aufgaben. Es war wie damals im Studium, als er sich in den Übungen zur Bauphysik verkalkuliert hatte – die Brücke wäre eingestürzt – und in zwei Nächten in einer Gewaltanstrengung das ganze Zeug neu durchrechnen musste, um den Abgabetermin einzuhalten. Es war keine reale Brücke, nur ein Übungsprojekt, aber er hätte sonst den Schein nicht gekriegt. Er hatte ungeahnte Energien freisetzen können und es schließlich geschafft, Projekt, Termin und Schein. Er würde es auch diesmal schaffen.
*
Chefinspektor Weiß spürte keine Rückenschmerzen. Die waren in Vigaun verschwunden und erschienen ihm schon zwei Wochen nach Beendigung der Kur wie etwas Fernes, Vergangenes ohne Bezug zum gegenwärtigen Leben. Als ob man ihm einen kaputten Zahn gezogen hätte: nicht wurzelbehandelt, nicht saniert, sondern gezogen mitsamt der letzten Wurzelspitze, raus, aus. Er konnte sich an keine Zeit in seinem Leben erinnern, in der es ihm so gut gegangen war wie jetzt. Er strotzte vor Energie. Die Arbeit fiel ihm leicht. Er strahlte das positive Lebensgefühl ab wie eine Jupiterlampe; die ganze Abteilung badete in diesem Licht, ob sie wollte oder nicht. Die meisten wollten, denn der Chefinspektor Weiß war nun umgänglicher als vorher.
Seine Energie teilte sich den anderen mit. Die Krankenstände gingen zurück. Die Aufklärungsrate stieg. Bei Weiß gab es allerdings noch einen Nebeneffekt: Er war so voller Energie, dass er sich mit Dingen beschäftigte, die ihn früher kaltgelassen hätten, er verlor seine professionelle Distanz. Er sah sichum im Polizeiapparat. Wie jemand, der sich einen neuen Rasenmäher gekauft hat, nach dem ersten Ausprobieren am eigenen schon begehrliche Blicke auf den Rasen des Nachbarn wirft. Weil es mit dem neuen Gerät so leicht geht. Er half, wo er konnte. Schoder war begeistert. Das Klima wurde besser, Schoder hatte dafür ein Gespür.
An Galba dachte Chefinspektor Weiß in diesen Wochen nicht. Er hatte in der ARA angerufen und erfahren, dass Ing. Galba sich einen längeren Urlaub genommen habe und auf Kur sei, irgendwo in Innerösterreich. Genaueres wisse man nicht. Weiß war ein wenig enttäuscht, Galba nicht erreicht zu haben. Später erinnerte er sich an dieses kurze, belanglose Gespräch mit dem Stellvertreter Galbas, dessen Namen er nicht behalten hatte, das Ganze dauerte keine zwei Minuten. Dennoch blieb ihm der Anruf im Gedächtnis – warum? Weil diese harmlose Mitteilung, Galba sei auf Kur, den ersten, feinen Riss in der glatten Fläche der neuen Verhältnisse bedeutete. Und damit bedeutete, dass die neuen Verhältnisse ganz ähnlich den alten waren. Weil man, wie es oft geschieht, über die alten Verhältnisse nur drübergemalt hatte, ohne das Mauerwerk auf Schäden zu untersuchen, neu zu verputzen und so weiter. Und jetzt kam alles wieder heraus. Auf Kur. Was sollte das heißen? Weshalb?
Chefinspektor Weiß fiel sogleich ein, weshalb. Bis zu diesem Anruf hatte er nicht mehr daran gedacht. Es war ihm entfallen. Er hatte es nicht vergessen, natürlich nicht, aber in seinem engsten Umfeld wurde nicht darüber geredet. Adele erwähnte den Namen nicht, die Suche nach Ludwig Stadler lief und wurde auf außereuropäische Gegenden ausgedehnt, die Hoffnungen waren gering, den Defraudanten zu finden, aber all dies war kein Thema im Hause seiner Frau, wo er häufig zu Besuch war. Und wenn er dort war, sprach sie nie überden verschwundenen Gatten, sie hatte dessen Sachen ausgelagert und jeden Hinweis auf seine Existenz entfernt. Ludwig Stadler war Geschichte, sie würde sich, hatte sie gleich am Anfang erwähnt, von ihm scheiden lassen, wenn erst eine bestimmte Frist verstrichen war, das Ganze hörte sich kompliziert an, ihr Anwalt hatte einen Plan ausgearbeitet. Kompliziert und langweilig, juristische Scherereien, man musste ein bestimmtes Prozedere einhalten, dann würde alles auf die Reihe kommen, das war keine Frage des ob, nur eine der Dauer.
Vorläufig lebten sie noch getrennt, Adele und Nathanael, das »vorläufig« hatte sie ausgesprochen, nämlich in dem Satz: »Ich halte es für besser, wenn wir vorläufig unsere Wohnungen behalten.« Er hatte durch Nicken zugestimmt und sich jeden Kommentars enthalten. Aber der Satz blieb ihm im Gedächtnis, Wort für Wort. An diesem Satz richtete er sich auf, wenn ihn Alltagsdinge bedrängten, berufliche Querelen. Der Satz lebte natürlich von diesem einen Wort, ließ man das »vorläufig« weg, dann wandelte er sich in ein kaltes
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