Alles Fleisch ist Gras
Reaktion hervorriefen, wodurch die Abschiedsszene den Charakter einer Bühnenvorstellung bekam, ein »als ob«. Sie hatten beide kein schauspielerisches Talent. Kein Regisseur hätte ihnen das durchgehen lassen, nicht einmal bei einem Schülertheater. Es war nicht der feine Riss, über den Liebespaare monatelang hinwegsehen, bis sie sich sein Vorhandensein eingestehen und zu schmerzlichen Einsichten kommen und so weiter – es war schon ein veritabler Spalt, so breit, dass sie sich kaum mehr die Hände reichen konnten. Da war das Problem erst eine Viertelstunde alt, er hatte sie redend und nach Erklärungen suchend zu ihrem Auto begleitet. Er spürte, wie sie sich voneinander entfernten. Und eben nicht unmerklich , nein, nein, es war durchaus zu merken! Er war ehrlich genug, diese Entfernung nicht allein ihr zuzuschreiben.Sie gingen auseinander, jeder mit der ihm eigenen Geschwindigkeit.
Er konnte danach nicht einschlafen, blieb wach, bis der Wecker läutete. Er schwieg beim Frühstück, Hilde erkundigte sich nach seinem Befinden, er habe schlecht geschlafen, sagte er. So sehe er auch aus, sagte sie. Und dass er Erholung brauche. Ja, da habe sie recht, sagte er, sie machte einen betretenen Eindruck; vielleicht hatte sie wütende Abwehr erwartet, männertypisches Verhalten, jetzt hatte er sie erschreckt, das war ihm recht, andere sollten merken, wie schlecht es ihm ging.
Das taten sie auch in der ARA, warfen ihm seltsame Blicke zu, die er als Sorge deutete. Nur bei Helga Sieber war von Sorge nichts zu merken. Als sie in sein Büro kam, war der Spalt zwischen ihnen schon zur Schlucht angewachsen; sie entfernten sich voneinander wie zwei Kontinentalplatten im rasenden Zeitraffer, Urgewalten des Erdinneren walteten, dagegen gab es kein Mittel, nicht einmal die Idee dazu. Kein Mensch hatte sich je Gedanken gemacht, wie man die Drift der Kontinente aufhalten könnte, fiel ihm ein, obwohl das zu allen möglichen Problemen führte, Vulkanismus, der Feuerring um den Pazifik … Er hatte das oft und oft in Fernsehdokumentationen auf den Nachrichtensendern gesehen, nie war ihm der Gedanke gekommen, dagegen könnte man etwas unternehmen. Gegen die Entfernung der Helga Sieber konnte er genauso wenig tun. Es wäre alles besser gewesen und wesentlich weniger peinlich, wenn sie die Sache nicht angesprochen hätte.
»Wie geht es dir?«
»Wie soll’s schon gehen? Gut, nehm’ ich an …«
»Das klingt aber nicht danach …«
»Nein, lass nur, wenn ich sage, es geht gut, dann stimmt das auch …«
Auf diese blödsinnige Rede, die ihm ebenso unkontrolliert herauskam wie ein Schwall Erbrochenes, verstummte sie mit bekümmerter Miene; um genau zu sein, bildete er sich ein, dass dieser Sieber’sche Gesichtsausdruck Kummer signalisiere, sicher war er nicht, aufkeimender Ärger konnte es auch sein. Um das Mienenspiel hatten sie sich in dieser Beziehung bis jetzt nicht so gekümmert …
Es war ihm zuwider, mit der Geliebten ein therapeutisches Gespräch über Impotenz zu führen, über die eigene! Und genau darauf wäre es hinausgelaufen, hätte er es nicht durch seinen Rüpelton abgewürgt, das Gespräch. Sie begann dann von betriebsinternen Dingen zu reden, er ging darauf ein. Dabei legten sie ein Engagement für die Sache an den Tag, wie es bei ihren Gesprächen seit Monaten nicht mehr vorgekommen war, hatte sich doch ihr Umgang in unbeaufsichtigten Momenten auf den Austausch verbaler Nichtigkeiten und nonverbaler Bedeutsamkeiten beschränkt, Berührungen, flüchtiges Streicheln, gehauchte Küsse. Jetzt redeten sie wieder wie Techniker, deren Herz daran hängt, die gesammelte Scheiße von fünfundvierzigtausend Menschen aus dem Abwasser rauszukriegen, das war doch eine gewaltige Aufgabe, Herrgott noch mal!
Als sie sein Büro verlassen konnte, atmete Helga Sieber durch. Es klang wie ein Seufzen. Sie war froh, draußen zu sein. Der Mann war krank. Er tat ihr auch leid, wirklich, sehr leid sogar. Aber das hatte alles nichts mit ihr zu tun. Krankheit bedeutete, wie die Krebserkrankung ihres Vaters, Zerstörung. Der erkrankten Person sowie der Menschen, die nahe genug standen. Alles Gerede von Behandlung und Heilung war Larifari. Krankheit war wie die Bombe eines Selbstmordattentäters. Diese Lektion hatte sie in ihrer Jugend lernen müssen. Bei den ersten Anzeichen an einer ihr nahestehenden Person ändertesie den Parameter der Nähe, wandelte ihn zu möglichst großer Ferne; das tat sie ohne nachzudenken von einer Minute auf die
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