Alles Fleisch ist Gras
andere. Bis jetzt war sie damit gut gefahren. Die anderen eher nicht, das gab sie vor sich selbst zu. Helga Sieber war Realistin. Sie hatte auch Pech mit ihren Partnern. Ihr erster Freund war im Drogensumpf verschwunden. Der zweite auch. Sie hatte aber nicht gelitten, da schon nicht mehr.
Auch jetzt litt sie nicht. Sie hielt Abstand zu Galba, der war so freundlich, es zu akzeptieren. Die Situation war komplizierter, weil sie mit ihm arbeitete. Auf die Dauer würde er es nicht aushalten, die Distanz, die Fremdheit, all das. Er bildete es sich ein, natürlich. Alles würde wieder in Ordnung kommen, dachte der. Therapien und so weiter. Was da in ihm nagte, würde sich besiegen lassen … Es erstaunte sie immer wieder, welche Phantasien Männer mobilisierten, wenn es darum ging, die eigene Lage zu verklären. Sie dachten sich kindischen Humbug aus, unwürdig eines erwachsenen Menschen, und glaubten daran. Sehr lang. Manche bis zum Schluss.
Noch am selben Tag begann sie die Stellenanzeigen in den großen Zeitungen zu studieren, ihre Fühler auszustrecken, Berufskollegen anzurufen. Sie würde weggehen. Weit weg und bald.
Daraus wurde nichts. Der Stellenmarkt war mit Laboranten gesättigt. Es dauerte ein paar Wochen, bis Helga Sieber das begriffen hatte, dann fand sie sich damit ab. Erleichtert wurde es ihr durch das Verhalten Anton Galbas, der sich nicht als Arschloch aufführte, wie das abgewiesene Chefs oft zu tun pflegen, sondern als Gentleman – er jammerte nicht, er wurde weder bissig noch verrückt. Einen Teil möglicher Verhaltensweisen kannte sie aus eigener Erfahrung, den Rest aus den Erzählungen früherer Kolleginnen. Galba bekam auf der Schulnotenskala postbeziehungsmäßigen Verhaltens eineZwei plus. Eins war rein theoretisch und von einem von einer Frau geborenen Menschen nicht zu erreichen. Galba war wie früher, nur immer ein bisschen abwesend, leicht von der Rolle. Er sprach die Sache nicht an und unternahm auch keine Annäherungsversuche, das erschien ihr höchst merkwürdig und ließ ihn in ihrer Achtung hoch steigen. Dass Männer sich ins Unvermeidliche schicken, ohne ein Riesentheater zu machen, hatte sie noch nie erlebt.
Nach ebendiesen Wochen, in denen Helga versuchte, ihm auszuweichen und eine neue Stelle zu finden, wurde Anton Galba dazu gedrängt, einen Arzt aufzusuchen. Gedrängt von seiner Frau Hilde, die sich Sorgen machte. Nicht, weil ihr das spezifische Unvermögen ihres Mannes aufgefallen wäre (das war schon lang kein Thema mehr), sondern wegen seiner ständigen Abgeschlagenheit und Reizbarkeit … Einerseits war er müde, andererseits überdreht. Er konnte sich zu keinen privaten Aktivitäten mehr aufraffen, weil die innere Spannkraft fehlte, geriet aber beim geringsten Anlass in Aufregung. Spannung war da, schien aber in unglückseliger Weise auf psychische Bereiche verlagert, wo Gelassenheit und Ruhe das Zusammenleben ermöglichen. Dieses Zusammenleben wurde schwierig, und Hilde Galba bedrängte ihren Mann, sich behandeln zu lassen. Sonst … Sie sagte das nicht, sprach das Wort sonst nicht einmal aus, dennoch dröhnte es im Raum wie eine Kirchenglocke; auf dieses sonst durfte er sich nicht einlassen, nicht riskieren, dass sie es aussprach. Denn wenn es erst ausgesprochen würde, käme ein Riesenschwall anderer Worte hinterher, es würde Nächte dauern, sie alle auszusprechen; Worte der Erbitterung, Enttäuschung und so weiter – Worte, die all das beschreiben würden, was in dieser Ehe erwartet worden und nicht gelungen war. Sie lebten wegen der Mädchen zusammen, hatten ihnen über die Pubertät geholfen,die schwierigen Jahre waren vorbei. Für ein weiteres Zusammenleben gab es nun keine Gründe mehr als die großen zwei: Gewohnheit und Bequemlichkeit. Bei einer Scheidung bekämen Hilde und die Kinder das Haus, er müsste ausziehen. Ich würde viel verlieren, dachte er manchmal, mehr als sie. Und wenn alles den gewohnten Gang ging, schien Hilde mit der Lage zufrieden zu sein. Sie hat nichts gegen mich, dachte er, sie hat gern einen Mann im Haus, ja, das muss es sein. Ein Mann gehört zur Familie, ein richtiger Mann. Der nicht trinkt, der die Familie nicht zerstört, wie es ihr Vater getan hatte. Einen Mann mit so einem Prüfsiegel, wie es auf Elektrogeräten angebracht ist, wo bestätigt wird, dass man sich beim Einschalten nicht den Stromtod holt. Für Männer gab es solche Siegel nicht – aber hätte es sie gegeben, wären sie für Hilde eine wertvolle Entscheidungshilfe
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