Alles Gold der Erde
ich bis ans Ende der Welt reisen, wo kein Mensch weiß, daß ich aus der Mülltonne komme. Jetzt bin ich hier. Aber das ändert nichts an den Tatsachen. Ich weiß noch immer nicht, wer ich bin. Hinter mir steht noch immer die Mülltonne.«
Endlich schaute er sie an. Wieder lächelte er schmerzlich und bitter.
»Kendra, es hat mich die größte Überwindung gekostet, dir das zu erzählen. Aber nun ist es heraus. Willst du mich immer noch haben?«
Sie lächelte ihm zu. Ihr Lächeln war nicht bitter, sondern zärtlich. Sie streckte ihre Hände über den Tisch und legte sie auf die seinen. Mit weicher Stimme fragte sie:
»Hiram, ist das alles?«
»Alles?« Mit einem Ruck riß er seine Hände los und ballte sie abermals. »Alles? Verstehst du denn nicht? Meine Mutter kann eine Straßendirne gewesen sein und mein Vater ein Mörder. Vielleicht bin ich der Sohn eines Idioten oder eines Wahnsinnigen. Ich weiß es einfach nicht. Und du weiß es natürlich auch nicht. Kendra.«
»Aber ich kenne dich!« gab sie zurück. »Du bist kein Idiot und kein Wahnsinniger und kein Mörder. Hiram, weiß denn irgend jemand wirklich alles über seine Vorfahren?«
Während sie sprach, weiteten sich seine Augen. Erstaunt, fast ungläubig, öffnete er die Lippen. Leise fragte er:
»Willst du es denn wirklich riskieren?«
»Ja, Hiram«, erwiderte sie ruhig.
Jäh leuchtete sein Gesicht auf. Einen Augenblick lang sagte keiner von ihnen etwas. Sie saßen da und blickten sich über dem Spieltisch an und waren glücklich. Dann fragte Kendra:
»Hiram, warum ist es dir denn bloß so schwer gefallen, mir das zu erzählen?«
»Weil … ich habe befürchtet … wenn du erfahren würdest, daß … Nun, ich hatte Angst, du würdest nein sagen. Ich hätte alles ertragen können, nur das nicht. Es wäre mir unerträglich gewesen, noch einmal weggeworfen zu werden. Oder vielleicht hätte ich es doch ertragen – ich meine, wenn nicht gerade du es wärest. Von dir hätte ich es nicht ertragen.«
Fest legte er seine Hände auf die ihren.
»Jetzt weißt du alles, und ich bin froh darüber. Du weißt, was für ein zitternder Feigling ich bin, aber du liebst mich dennoch. Kendra, meinst du aufrichtig, daß die Herkunft nicht so bedeutsam ist?«
»Sie ist es nicht, Hiram. Ich glaube, du hältst das für viel zu wichtig.«
»Wieso?«
»Es gibt Tausende, die Kinder adoptiert haben. Diese Kinder wachsen wohlbehütet und glücklich heran.«
»Aber diese Kinder waren erwünscht.« Er stand auf. »Kendra, vielleicht habe ich das alles bloß deshalb so ernst genommen, weil ich in meinem ganzen Leben niemanden gekannt habe, dem ich etwas bedeutet hätte. Meine Eltern, wer sie auch waren, wollten nichts von mir wissen, denn sonst hätten sie mich ja nicht weggeworfen. Auch meine Pflegeeltern wollten mich im Grunde nicht. Ich war ihnen eine zusätzliche Last neben ihren eigenen Kindern. Sie haben das niemals ausgesprochen. Sie waren stets gut zu mir. Aus Pflichtgefühl haben sie sich meiner angenommen. Sie waren wirklich sehr freundlich. Du kannst das nicht so richtig verstehen, denn du hattest ja echte Eltern. Du warst willkommen, du wurdest geliebt …«
Jetzt stand auch Kendra auf, und zwar so rasch, daß ihr Stuhl umkippte. Hiram starrte sie verblüfft an. Zum erstenmal fiel ihr ein, daß Hiram ja gar nichts über ihre Kindheit wußte. Er wußte nicht, daß ihre Eltern davongelaufen waren. Er wußte nicht, daß man sie jahrelang in Pensionaten versteckt gehalten hatte, weil sie unerwünscht gewesen war. Sie hatte ihm ja noch niemals von ihrer Einsamkeit erzählt. Sie war eigentlich auch das Kind von niemandem.
Allerdings kannte sie ihre Eltern; dies hatte sie ihm voraus. Ihre Eltern hatten sie nicht in eine Mülltonne geworfen. Aber ihre Mutter hatte die erste Gelegenheit ergriffen, um sie loszuwerden. Eva hatte sie an ihre Großmutter weitergereicht und sie – soweit dies möglich war – einfach nicht beachtet. Und die Großmutter wiederum hatte sich ihr Enkelkind nach Möglichkeit vom Halse geschafft.
Hiram konnte dies alles nicht wissen. Er konnte ja nicht ahnen, wie sehr sie ihn verstand. Sie hatte Hiram immer für einen starken und selbstsicheren Mann gehalten. Nun erst wurde ihr klar, daß kein Mensch stark und selbstsicher ist. Jeder brauchte die Hilfe des Nächsten. Stumm stand Hiram da. Ihr Schweigen und ihr Erstaunen hatten ihm einen Schock versetzt. Wieder schritt Kendra um den Tisch und streckte ihm ihre Hände entgegen. Er nahm
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