Alles hat seine Zeit
Flaiano?
Er wurde 1910 in Pescara geboren, starb 1972 in Rom an einem Herzinfarkt und war nach einem abgebrochenen Architekturstudium hauptsächlich Journalist, schrieb in Rom für viele Zeitungen
Glossen, Satiren, Theater- und Filmkritiken. Berühmt wurde er in Cineastenkreisen vor allem als Drehbuchschreiber für mehr als sechzig Filme.
Sehen wir frühe Filme von Rossellini, Antonioni oder vor allem Federico Fellini, dann taucht im Abspann oft der Name Ennio Flaiano auf als Autor des Drehbuchs. Dov’è la libertà hat er für Rossellini geschrieben, La notte für Antonioni und für Fellini Meisterwerke wie La dolce vita , La strada , Boccaccio’70 , Julia und die Geister oder Die Nächte der Cabiria . Flaiano und Fellini lernten sich Ende der vierziger Jahre in Rom kennen, weil sich die Redaktionen von Il mondo , für die Flaiano schrieb, und von Marc’Aurelio , für die Fellini Karikaturen zeichnete, im selben Gebäude befanden. Die Zusammenarbeit und Freundschaft der beiden war lang, fruchtbar, von Krisen geschüttelt und am Ende beinahe zerrüttet.
Drehbücher also, Kritiken, Satiren -«Ich bin ein satirischer Schriftsteller, weil ich in einer Gesellschaft lebe, die nur diese Seite bietet», sagte Flaiano in einem Interview kurz vor seinem Tod. Und seine beiden längeren Erzählungen, Melampus und O Bombay! , kann man auch als grotesksatirische Kurzromane lesen. Aber einmal, 1946, hat dieser stille, kluge Mann mit der dicken Brille plötzlich diesen Roman geschrieben, in nur sehr kurzer Zeit, einen Roman, der zu den ganz großen
der Weltliteratur gehört und der doch noch immer nur wenigen Eingeweihten bekannt ist: Tempo di uccidere ,«Zeit zu töten». Der Titel geht zurück auf einen Text aus der Bibel, Prediger Salomo 3,1-3:«Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: Geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit; töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit.»Zeit ist hier nicht die messbare Zeit, chronos , sondern der richtige Zeitpunkt, kairos.
Der Mailänder Verleger Leo Longanesi war es, der 1946 an Flaiano schrieb:«Lieber Flaiano, seit längerem habe ich nichts mehr von Ihnen gehört. Ich will unbedingt etwas von Ihnen veröffentlichen. (…) Schreiben Sie mir, Sie alter Faulpelz.»
Flaiano schrieb, und Longanesi veröffentlichte den Roman unter dem Titel Tempo di uccidere schon ein Jahr später, 1947. Flaiano bekam dafür sofort den ersten Premio Strega, den bis heute wichtigsten italienischen Literaturpreis, übrigens benannt nach einem italienischen Kräuterlikör. Unter dem abschreckenden Titel Frevel in Äthiopien kam das Buch 1953 bei Claassen in Deutschland heraus, 1978 dann in einer neuen Übersetzung bei Manesse unter Alles hat seine Zeit. Das Buch ist übrigens 1989 von Giuliano Montaldo, der auch das Drehbuch
schrieb, unter dem Titel Time to Kill verfilmt worden, in der Hauptrolle: Nicolas Cage.
Ich las diesen Roman Anfang der achtziger Jahre und erfuhr darin zum ersten Mal von dem grausamen Krieg, der als Abessinienkrieg in die Geschichte einging und den die Italiener in Äthiopien, vor allem im Hochland von Abessinien, geführt haben. Er dauerte von Oktober 1935 bis Mai 1936 und endete mit der Annexion Äthiopiens und der Gründung der Kolonie Italienisch-Ostafrika durch das faschistische Italien unter Mussolini. Es war ein äußerst brutaler Krieg, in dem durch Massaker und Giftgas mehr als 700 000 Äthiopier ums Leben kamen, etwa zehn Prozent der Gesamtbevölkerung und fast die gesamte Oberschicht. Ganze Landstriche wurden niedergebrannt, und die Italiener führten die unselige Rassentrennung ein. Später hat Italien Millionen als Wiedergutmachung an Äthiopien gezahlt. Als könnte man so viel Gewalt und Unrecht je wiedergutmachen.
An diesem Krieg hat der Journalist Ennio Flaiano als junger Mann teilgenommen, gerade mal Mitte zwanzig, und er hat während des Feldzuges wie auch später in Rom und sonst immer Tagebuch geführt, sich Notizen gemacht, und vieles davon ist wohl in diesen Roman eingegangen. Es ist ein Buch über Schuld, Mitschuld, Verzweiflung, das neben den Romanen von Cesare Pavese,
Vitaliano Brancati oder Giuseppe (Beppe) Fenoglio als ein Hauptwerk der italienischen neorealistischen Nachkriegsliteratur bis heute Bestand hat. Der Roman war kein Erfolg beim Publikum, aber er bekam jenen Literaturpreis und ging eben deshalb wohl nie völlig
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