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Alles hat seine Zeit

Titel: Alles hat seine Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ennio Flaiano
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abschließt, und zwischen diesen schwarzen Basaltbergen, die im Frühling blühen?
    «Fahren wir fort», sagte ich.«Jetzt der Turban.»
    «Ja, fahren wir fort», wiederholte der Leutnant.
Er fügte hinzu, dass es ihm schwierig erscheine, diesen Punkt zu klären.«Warum trug die Frau den Turban, wenn sie nicht infiziert und deshalb ‹unberührbar› war?»
    «Das möchte ich von dir wissen», erwiderte ich.«Übrigens, wenn wir nicht diese erste Frage lösen, ist es unnütz, sich die zweite zu stellen.»
    Der Leutnant nickte mit dem Kopf und kündigte an, dass er zwei Hypothesen vorbringen wolle.«Die erste», sagte er,«besteht darin, dass du den Turban erst nachher ‹gesehen› hast, als wir im Hof der Kirche zu den beiden Mädchen gingen, die wirklich einen aufhatten.»
    Ich brach in Lachen aus, und er bemerkte, dass diese Hypothese mich nicht hätte überraschen dürfen. Vielleicht hatte ich keinen sehr klaren Begriff von der Erinnerung und ihren Vorahnungen? Und er fuhr fort. Die zweite Hypothese erforderte einen Vergleich. Die Frau hatte sich den Turban aufgesetzt, um sich zu waschen, doch sie wusste, dass sie etwas Frevelhaftes oder zumindest etwas Absurdes tat. Wie konnte sie es wagen, in diesem Land, wo man (und hier betonte der Leutnant jedes Wort) einige gute Eigenschaften noch bewahrt, die bei anderen Völkern allmählich verlorengehen, den Glauben vor allem und die Ehrfurcht vor der Religion?«Versuchen wir einmal einen Vergleich anzustellen», sagte er.«Wir
treten in eines unserer Häuser ein, und es ist niemand da, um uns zu empfangen. Wir gehen durch die Korridore und geraten aus Versehen (ja, aus Versehen) ins Badezimmer. Dort überraschen wir die Hausfrau: Sie ist nackt und gerade damit beschäftigt, sich zu waschen. Ein ganz gewöhnlicher Anblick. Es ist ihre Art, sich gern zu haben und sich die Zeit zu vertreiben. Aber auf dem Kopf hat die Badende einen Priesterhut.»
    «Genau», sagte ich.«Aber in was für einem Haus würde sich dir ein so ungewohnter Anblick bieten?»
    Der Leutnant sagte leise:«In einer Irrenanstalt. »Ich konnte das Lachen nicht zurückhalten. Also, Mariam war verrückt! Es schien mir überflüssig, seine Hypothese zu widerlegen, und ich sagte:«Fahren wir fort.»
    «Fahren wir fort», wiederholte der Leutnant. Aber wir schwiegen. Und ich dachte:«In vier Tagen die Einschiffung in Massaua.»Die Soldaten würden sich berauschen an Sonne und Wein. Dann das Rote Meer, ein heißes und melancholisches Meer, und schließlich Port Said. Von Afrika würde uns als letzte Erinnerung die riesige Whisky-Reklame an der Hafeneinfahrt bleiben. Es ist das erste Monument, das man von Afrika sieht, wenn man ankommt, und das letzte, wenn man es verlässt.

    Der zweite dunkle Punkt waren die Wunden. Als ich durchblicken ließ, dass sie durch Mangelernährung verursacht sein konnten, schüttelte der Leutnant den Kopf.«Versuchen wir immerhin eine rationale Erklärung», sagte ich.«Vielleicht waren sie durch eine Blutvergiftung hervorgerufen worden. Die Fastenzeit im Dorf und Johannes’ Umschläge haben sie geheilt. Alles in allem sind sie kein dunkler Punkt», schloss ich,«obwohl die erste Abbildung in dem Büchlein meine Hand war.»
    Der Leutnant dachte lange nach, ehe er sprach; dann sagte er, dass er einen Eingeborenen nicht für fähig halte, Wunden zu heilen, die durch eine Blutvergiftung hervorgerufen worden waren.«Lepra-Wunden, ja», fügte er hinzu.«Hier sind wir in der Metaphysik, und Johannes lässt die Metaphysik gelten. Aber Wunden anderer Art, nein. Die zu heilen überlässt er den ‹Herren›, und glücklicherweise ist dies ein Kennzeichen ihrer Überlegenheit.»
    «Und nun?», sagte ich.
    «Nun, über die Wunden diskutiert man nicht, man findet sich damit ab.»Und als ich lächelte, sagte der Leutnant, dass wir auch dafür eine rationale Erklärung suchen könnten, allerdings erst in zehn Jahren.
    «Nein», sagte ich rasch,«finden wir uns damit
ab, ohne zu diskutieren.»Wir lachten. Vom Lager tönte jetzt ein Stimmengewirr herüber. Die Soldaten hatten aufgehört zu singen und begannen sich bereitzumachen. Auf den Feuern der Feldküche kochten die Kaffeekessel.
    «Ich möchte wohl wissen», sagte der Leutnant,«was Lazarus zur Antwort gegeben hätte, wenn ihn jemand gefragt hätte, was er im Jenseits gesehen habe. Wahrscheinlich hätte Lazarus, den Kopf immer in den Wolken, geantwortet, er habe nicht darauf geachtet.»Wieder schwiegen wir. Vielleicht dachten wir alle

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