Alles ist erleuchtet
sollten wir uns unterhalten?«, fragte ich den Helden, denn ich wusste, dass es normaler Anstand war, uns zu unterhalten. »Ich weiß nicht.« »Es muss etwas geben.« »Willst du irgendwas über Amerika wissen?«, fragte er. »Mir fällt im Moment nichts ein.« »Kennst du den Times Square?« »Ja«, sagte ich, »der Times Square ist in Manhattan an der 42. Straße und Broadway Avenue.« »Hast du von den Menschen gehört, die den ganzen Tag vor Spielautomaten sitzen und alles Geld verschwenden, das sie haben?« »Ja«, sagte ich. »Las Vegas in Nevada. Ich habe einen Artikel darüber gelesen.« »Und was ist mit Wolkenkratzern?« »Natürlich. World Trade Center. Empire State Building. Sears Tower.« Ich verstehe nicht, warum, aber ich war stolz auf alles, was ich von Amerika wusste. »Was noch?«, fragte er. »Erzähl mir von deiner Großmutter«, sagte ich. »Von meiner Großmutter?« »Von der du im Wagen gesprochen hast. Deine Großmutter aus Kolki.« »Das weißt du noch?« »Ja.« »Was willst du wissen?« »Wie alt ist sie?« »Sie ist ungefähr so alt wie dein Großvater, glaube ich, aber sie sieht viel älter aus.« »Wie sieht sie aus?« »Sie ist klein. Sie sagt, sie ist eine Zwergin, und das ist komisch. Ich weiß nicht, welche Farbe ihr Haar in Wirklichkeit hat, aber sie färbt es irgendwie gelb oder braun, ungefähr so wie die Haare an diesen Maiskolben. Sie hat verschiedene Augen, eins ist blau und das andere grün. Sie hat schreckliche Krampfadern.« »Was sind Krampfadern?« »Die Adern in ihren Beinen, durch die das Blut fließt, sind höher als die Haut und sehen irgendwie seltsam aus.« »Ja«, sagte ich, »Großvater hat die auch, weil er, als er geschuftet hat, den ganzen Tag stehen musste, und so ist ihm das passiert.« »Meine Großmutter hat sie aus dem Krieg, weil sie durch ganz Europa laufen musste, um zu fliehen. Das war zu viel für ihre Beine.« »Sie ist durch Europa gelaufen?« »Weißt du noch? Ich habe dir erzählt, dass sie Kolki verlassen hat, bevor die Nazis kamen.« »Ja, ich weiß noch.« Er hielt für einen Moment an. Ich entschloss, noch einmal alles in ein Risiko zu geben. »Erzähl mir von dir und ihr.«
»Was meinst du mit mir und ihr?« »Ich will nur zuhören.« »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.« »Erzähl mir davon, wie du jung warst und wie es damals mit ihr war.« Er gab ein Lachen. »Als ich jung war?« »Erzähl mir irgendetwas.« »Als ich jung war«, sagte er, »saß ich bei den Essen in unserer Familie unter ihrem Kleid. Das ist etwas, an das ich mich erinnere.« »Erzähl mir davon.« »Ich habe schon lange nicht mehr daran gedacht.« Ich äußerte kein Wort, damit er fortfuhr. Das war manchmal so schwer, weil so viel Stille passierte. Aber ich wach t e verstand, dass die Stille nötig war, damit er redete. »Ich strich mit den Händen über ihre Krampfadern. Ich weiß nicht, warum oder wie ich damit anfing. Es war bloß etwas, das ich einfach tat. Ich war ein Kind, und Kinder machen solche Sachen, glaube ich. Das ist mir eingefallen, weil ich ihre Beine erwähnt habe.« Ich weigerte mich, auch nur ein einziges Wort zu äußern. »Es war wie Daumenlutschen. Ich hab es getan, und es fühlte sich gut an, und das war alles.« Sei schweigend, Alex. Du brauchst nichts zu sagen. »Ich sah die Welt durch ihre Kleider. Ich konnte alles sehen, aber niemand konnte mich sehen. Es war wie ein Fort, wie ein Versteck unter der Bettdecke. Ich war bloß ein Kind. Vier, fünf. Ich weiß nicht.« Mit meiner Stille gab ich ihm einen Raum, den er füllen konnte. »Ich habe Sicherheit und Frieden gefühlt. Echte Sicherheit und echten Frieden. Ich habe sie gefühlt.« »Sicherheit und Frieden vor was?« »Ich weiß nicht. Sicherheit und Frieden vor Nicht-Sicherheit und NichtFrieden.« »Das ist eine schöne Geschichte.« »Sie ist wahr. Ich habe sie mir nicht ausgedacht.« »Natürlich. Ich weiß, dass du wahrheitlich bist.« »Manchmal denkt man sich Dinge aus, nur um zu reden. Aber das ist wirklich passiert.« »Ich weiß.« »Wirklich.« »Ich glaube dir.« Es gab eine Stille. Die Stille war so schwer und so lang, dass ich gezwungen war zu sprechen. »Wann hast du aufgehört, dich unter ihrem Kleid zu verstecken?« »Ich weiß nicht. Vielleicht war ich fünf oder sechs. Vielleicht war es ein bisschen später. Ich glaube, ich wurde einfach zu alt dafür. Irgendjemand hat mir wohl gesagt, dass es sich nicht gehört.« »An was erinnerst du dich noch?« »Was meinst du
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