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Alles ist erleuchtet

Alles ist erleuchtet

Titel: Alles ist erleuchtet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Safran Foer
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Trachimbrod vorführen.« »Wir sind gekommen, um Trachimbrod zu sehen«, sagte Großvater, »und Sie werden uns nach Trachimbrod bringen.«
    Sie sah mich an und legte die Hand an mein Gesicht. »Sag ihm, dass ich jeden Tag daran denke. Sag es ihm.« »An was?«, fragte ich. »Sag es ihm.« »Sie denkt jeden Tag daran«, sagte ich zu dem Helden. »Ich denke an Trachimbrod und daran, wie wir alle jung waren. Wir sind nackt in den Straßen herumgelaufen, könnt ihr euch das vorstellen? Wir waren ja bloß Kinder, nicht? Ja, so war es. Sag es ihm.« »Sie sind nackt in den Straßen herumgelaufen. Sie waren bloß Kinder.« »Ich kann mich so gut an Safran erinnern. Er hat mich hinter der Synagoge geküsst, und das war etwas, dafür hätte man uns gesteinigt. Ich weiß noch, wie es sich angefühlt hat. Es war ein bisschen wie fliegen. Sag es ihm.« »Sie erinnert sich, wie dein Großvater sie geküsst hat. Sie ist ein bisschen geflogen.« »Ich erinnere mich auch an Rösch Haschana, wenn wir zum Fluss gingen und Brotkrümel hineinwarfen, damit unsere Sünden von uns wegschwimmen würden. Sag es ihm.« »Sie erinnert sich an den Fluss und Brotkrümel und Sünden.« »An den Brod?«, fragte der Held. Sie bewegte den Kopf, um zu sagen ja, ja. »Sag ihm, dass sein Großvater und ich und alle anderen Kinder in den Brod sprangen, wenn es heiß war, und unsere Eltern saßen am Rand und sahen zu und spielten Karten. Sag es ihm.« Ich sagte es ihm. »Jeder hatte seine Familie, aber es war irgendwie auch so, dass wir alle eine große Familie waren. Man hat sich gestritten, ja, aber das war nichts.«
    Sie nahm ihre Hand von mir zurück und legte sie auf ihre Knie. »Ich bin so schamvoll«, sagte sie. »Man musste irgendetwas tun. Man konnte danach keinen sein Gesicht sehen lassen.« »Sie sollten schamvoll sein«, sagte Großvater. »Seien Sie nicht schamvoll«, sagte ich zu ihr. »Frag sie, wie mein Großvater fliehen konnte.« »Er möchte wissen, wie sein Großvater fliehen konnte.« »Sie weiß nichts«, sagte Großvater. »Sie ist eine Dummköpfin.« »Sie müssen nichts äußern, was Sie nicht äußern wollen«, sagte ich zu ihr, und sie sagte: »Dann würde ich nie mehr ein Wort äußern.« »Sie müssen nichts tun, was Sie nicht tun wollen.« »Dann würde ich nie mehr etwas tun.« »Sie ist eine Lügnerin«, sagte Großvater, und ich konnte nicht verstehen, was ihn zwingte, sich so zu benehmen.
    »Könntet ihr uns bitte etwas in Einsamkeit lassen?«, sagte Augustine zu mir. »Für ein paar Momente?« »Lass uns rausgehen«, sagte ich zu Großvater. »Nein«, sagte Augustine, »er.« »Er?«, fragte ich. »Bitte lasst uns für ein paar Momente in Einsamkeit.« Ich sah Großvater an, damit er mir ein Zeichen geben konnte, was ich tun sollte, aber ich konnte sehen, dass seine Augen randvoll mit Tränen waren und dass er mich nicht ansehen wollte. Das war mein Zeichen. »Wir müssen rausgehen«, sagte ich zu dem Helden. »Warum?« »Sie wollen ein paar Dinge in Geheimlichkeit äußern.« »Was für Dinge?« »Wir können nicht hier sein.«
    Wir gingen raus und machten die Tür hinter uns zu. Ich sehnte, auf der anderen Seite der Tür zu sein, auf der Seite, wo so bedeutende Dinge geäußert wurden. Ich sehnte, mein Ohr an die Tür zu pressen, sodass ich mit ganz kleiner Lautstärke hören konnte. Aber ich wusste, dass meine Seite hier draußen bei dem Helden war. Ein Teil von mir hasste das, aber ein Teil war dankbar, denn wenn man erst einmal etwas gehört hat, kann man nie mehr zurück in die Zeit, bevor man es gehört hat. »Wir können die Haut von den Maiskolben für sie abziehen«, sagte ich, und der Held stimmte zu. Es war ungefähr vier Uhr am Nachmittag, und die Temperatur fing an, kalt zu werden. Der Wind machte die ersten Geräusche des Abends.
    »Ich weiß nicht, was ich tun soll«, sagte der Held.
    »Ich weiß es auch nicht.«
    Danach war eine lange Zeit eine große Knappheit an Worten. Wir zogen nur die Haut von den Maiskolben. Ich dachte nicht daran, was Augustine sagte. Ich sehnte nur zu hören, was Großvater sagte. Warum konnte er Dinge zu dieser Frau sagen, die er noch nie begegnet hatte, wenn er keine Dinge zu mir sagen konnte? Oder vielleicht sagte er gar nichts zu ihr. Oder vielleicht gab er ihr Nicht-Wahrheiten. Das war, was ich wollte: dass er ihr Nicht-Wahrheiten gab. Sie verdiente die Wahrheit nicht, nicht so wie ich. Oder wir beide verdienten die Wahrheit, und der Held auch. Wir alle.
    »Über was

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