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Alles ist erleuchtet

Alles ist erleuchtet

Titel: Alles ist erleuchtet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Safran Foer
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dessen Namen sich niemand erinnern konnte und dem man die Einladung aus schlechtem Gewissen, weil seine Frau kürzlich an Krebs gestorben war, im letzten Moment unter der Tür hindurchgeschoben hatte), der Aufrechte Rabbi neben der entschiedenen Wanklerin Schana P. (die er ebenso abstoßend und erregend fand wie sie ihn), und mein Großvater besprang die jüngere Schwester seiner Braut von hinten.
    Zoscha und ihre Mutter - peinlich errötet, traurig erbleicht angesichts des misslungenen Hochzeitsfestes - eilten hierhin und dorthin: Sie mühten sich vergeblich, alles wieder in den sorgfältig arrangierten Zustand zurückzuversetzen, hoben Messer und Gabeln auf, wischten verschütteten Wein vom Boden, rückten den Blumenschmuck in die Mitte der Tische und stellten die Tischkarten um, die verstreut waren wie in die Luft geworfene Spielkarten.
    Hoffentlich stimmt es nicht, versuchte der Brautvater in Anbetracht der hektischen Betriebsamkeit zu scherzen, dass nach der Hochzeit alles den Bach runtergeht!
    Die jüngere Schwester der Braut lehnte an einem der leeren Weinregale, als mein Großvater in den Keller kam.
    Hallo, Maya. Hallo, Safran.
    Ich will mich umziehen. Zoscha wird sehr enttäuscht sein.
    Warum?
    Weil sie findet, dass du so einfach perfekt bist. Das hat sie mir gesagt. Und an seinem Hochzeitstag sollte man nichts ändern.
    Auch nicht, wenn man es etwas bequemer haben will?
    An seinem Hochzeitstag hat man es nicht bequem.
    Ach, Schwester, sagte er und küsste sie, wo ihre Wange ihre Lippen wurde. Dein Sinn für Humor ist deiner Schönheit ebenbürtig.
    Sie zupfte ihr Spitzenhöschen aus der Tasche unter seinem Revers. Endlich. Sie zog ihn in ihre Arme. Eine Minute länger, und ich wäre geplatzt.

    Unter der vier Meter hohen Decke, die klang, als könnte sie jeden Augenblick unter dem Trommelfeuer der zahlreichen Absätze einbrechen, liebten sie sich eilig - oben war man so bemüht, alles wieder in seine Ordnung zu bringen, dass niemand die lange Abwesenheit des Bräutigams bemerkte -, und mein Großvater fragte sich, ob er nicht vielleicht bloß ein Spielball des Schicksals war. War nicht alles, was geschehen war, von seinem ersten Kuss bis zu diesem ersten Akt der Untreue, die unvermeidliche Folge von Umständen, auf die er keinen Einfluss gehabt hatte? Wie schuldig war er denn eigentlich wirklich, wenn ihm doch nie eine Wahl geblieben war? Konnte er denn oben bei Zoscha sein? War das eine Möglichkeit? Konnte sein Penis denn irgendwo anders sein als dort, wo er war und nicht war und war und nicht war? Konnte er denn gut sein?
    Seine Zähne. Das ist das Erste, was mir auffällt, wenn ich ein Foto von ihm als Baby betrachte. Es sind nicht meine Schuppen. Es sind keine Gips- oder Farbspritzer. Zwischen den schmalen Lippen meines Großvaters prangt, in das rosige Zahnfleisch gepflanzt wie zwei Reihen albinobleicher Kerne, ein komplettes Gebiss. Der Arzt hatte vermutlich bloß mit den Schultern gezuckt, wie Ärzte es gewöhnlich tun, wenn sie mit einem medizinischen Phänomen konfrontiert sind, das sie nicht erklären können, und meine Urgroßmutter mit ein paar Sätzen über gute Omen getröstet. Aber dann ist da das Familienporträt, das drei Monate später gemalt wurde. Sehen Sie sich ihre Lippen an, und Sie werden bemerken, dass sie nicht wirklich getröstet war: Meine junge Urgroßmutter runzelt die Stirn.
    Die Zähne meines Großvaters, auf die sein Vater so stolz war, weil sie von Männlichkeit kündeten, machten die Brustwarzen seiner Mutter wund und blutig, sodass sie auf der Seite schlafen musste und schließlich gar nicht mehr stillen konnte. Diese Zähne, diese winzigen Schneidezähnchen, diese süßen Backenzähne waren schuld daran, dass meine Urgroßeltern aufhörten, miteinander zu schlafen, und infolgedessen keine weiteren Kinder bekamen. Diese Zähne waren schuld daran, dass mein Großvater vor der Zeit vom labenden Quell der mütterlichen Brüste entfernt wurde und nicht die Nährstoffe bekam, die sein zarter Körper benötigte.
    Sein Arm. Selbst wenn man sich all diese Fotos viele Male ansähe, das Ungewöhnliche würde man dennoch nicht bemerken. Doch es kommt so häufig vor, dass man es nicht damit erklären kann, das Ganze sei reiner Zufall oder der Fotograf habe eben diese Pose gewählt. Mein Großvater hält nie etwas in der rechten Hand - keine Tasche, keine Papiere, nicht einmal die andere Hand. (Und auf dem einzigen Foto von ihm, das in Amerika aufgenommen worden ist - knapp zwei

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