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Alles ist erleuchtet

Alles ist erleuchtet

Titel: Alles ist erleuchtet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Safran Foer
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Wochen nach seiner Ankunft, drei Wochen vor seinem Tod -, hält er meine neugeborene Mutter im linken Arm.) Angesichts des akuten Kalziummangels musste sein kleiner Körper das, was er bekam, klug einteilen, und der rechte Arm zog dabei den Kürzeren. Hilflos musste das Kind erleben, dass die rote, geschwollene Brustwarze kleiner und kleiner wurde und sich ihm für immer entzog. Als er sie am dringendsten brauchte, konnte er nicht die Hand danach ausstrecken.
    Ich stelle mir also vor, dass er wegen seiner Zähne keine Muttermilch bekam, und weil er keine Muttermilch bekam, starb sein rechter Arm ab. Weil sein rechter Arm abgestorben war, arbeitete er nie in der gefährlichen Mühle, sondern in der Gerberei vor den Toren des Schtetls. Er wurde auch nicht eingezogen und wie seine Schulkameraden in aussichtslosen Schlachten gegen die Nazis verheizt. Der Arm war seine Rettung, als er ihn davor bewahrte, nach Trachimbrod zurückzuschwimmen, um seine einzige Liebe zu retten (die wie alle anderen im Fluss ertrank), und noch einmal, als er ihn davor bewahrte, seinerseits zu ertrinken. Der Arm war seine Rettung, als er bewirkte, dass Augustine sich in ihn verliebte und ihn rettete, und abermals, als er verhinderte, dass mein Großvater an Bord der New Ancestry ging, die vor Ellis Island auf Geheiß der amerikanischen Einwanderungsbehörde umkehren musste und deren Passagiere samt und sonders im Todeslager Treblinka umgebracht wurden.
    Und wegen dieses Armes, da bin ich sicher, wegen dieses schlaffen Muskels, der nutzlos an seiner Seite herabhing, war es ihm gegeben, dass sich jede Frau, die seinen Weg kreuzte, hoffnungslos in ihn verliebte; wegen dieses Armes hatte er mit über vierzig Frauen in Trachimbrod und doppelt so vielen aus den benachbarten Dörfern geschlafen und beglückte jetzt hastig und im Stehen die jüngere Schwester seiner Braut.
    Die erste dieser Frauen war die Witwe Rose W, die in einem der großen alten Holzhäuser am Brod lebte. Was sie für den verkrüppelten Jungen empfand, der auf Geheiß der WanklerGemeinde bei ihr erschien, um ihr beim Hausputz zu helfen, hielt sie für Mitleid. Sie glaubte, dass Mitleid sie bewegte, ihm einen Teller Mandelbrot und ein Glas Milch (bei dessen bloßem Anblick sich ihm der Magen umdrehte) zu bringen, ihn zu fragen, wie alt er sei, und ihm ihr eigenes Alter zu verraten -etwas, das nicht einmal ihr eigener Mann jemals gekannt hatte. Sie glaubte, dass sie aus Mitleid die Schichten von Wimperntusche entfernte, um ihm den einzigen Teil ihres Körpers zu zeigen, den niemand, nicht einmal ihr Mann, in den mehr als sechzig Jahren ihres Lebens zu sehen bekommen hatte. Und aus Mitleid - das glaubte sie jedenfalls - führte sie ihn schließlich in ihr Schlafzimmer, um ihm die Liebesbriefe zu zeigen, die ihr Mann ihr im großen Krieg von Bord eines Marineschiffes im Schwarzen Meer geschrieben hatte.
    In diesem hier, sagte sie und nahm die leblose Hand meines Großvaters, hatte er Schnüre beigelegt, mit denen er seinen Körper vermessen hatte: seinen Kopf, Oberschenkel, Unterarm, Finger, Hals, alles. Er wollte, dass ich sie unter mein Kopfkissen legte. Er schrieb, nach seiner Rückkehr würde er sich noch einmal mit diesen Schnüren vermessen, zum Beweis, dass er sich nicht verändert habe... Ach, und an diesen erinnere ich mich auch, sagte sie, drehte und wendete ein vergilbtes Blatt Papier in der einen Hand und strich mit der anderen - wissend oder nicht wissend, was sie tat -ein ums andere Mal über den verkümmerten Arm meines Großvaters. In diesem hat er mir von dem Haus geschrieben, das er für uns bauen wollte. Er hat sogar ein kleines Bild gezeichnet, obwohl er eigentlich gar nicht zeichnen konnte. Es sollte einen kleinen See haben, nein, keinen See, sondern einen Teich, damit wir unsere eigenen Fische züchten konnten. Und ein Fenster über dem Bett, damit wir vor dem Einschlafen über die Sternbilder sprechen konnten... Und hier, sagte sie und schob seinen Arm unter ihren Rocksaum, ist der Brief, in dem er mir ewige Liebe geschworen hat.
    Sie schaltete das Licht aus.
    Ist das gut so?, fragte sie, führte seine leblose Hand und lehnte sich zurück.
    Mit einem Draufgängertum, das seinen zehn Jahren eigentlich nicht entsprach, zog er sie an sich, streifte ihr, mit ihrer Hilfe, die schwarze Bluse ab, die so stark nach Alter roch, dass er fürchtete, nie mehr jung riechen zu können, dann ihren Rock, ihre Strümpfe (unter denen sich ihre Krampfadern abzeichneten), die

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