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Alles ist erleuchtet

Alles ist erleuchtet

Titel: Alles ist erleuchtet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Safran Foer
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Unterhose und die Watteeinlage, die sie für den Fall der nunmehr regelmäßigen Malheure trug. Der Raum war erfüllt von Gerüchen, wie er sie in dieser Kombination noch nie gerochen hatte: nach Staub, Schweiß und Abendessen, nach der Toilette, wenn seine Mutter sie benutzt hatte. Sie zog ihm die Shorts und die Unterhose aus und setzte sich rücklings auf ihn, als wäre er ein Rollstuhl. Oh, stöhnte sie, oh. Und weil mein Großvater nicht wusste, was er tun sollte, tat er, was sie tat: Oh, stöhnte er, oh. Und als sie stöhnte: Bitte, stöhnte er ebenfalls: Bitte. Und als sie von kleinen, raschen Zuckungen erbebte, tat er dasselbe. Und als sie still war, war er ebenfalls still.
    Mein Großvater war erst zehn, und so schien es nicht verwunderlich, dass er imstande war, stundenlang und ohne Unterbrechung zu lieben oder sich lieben zu lassen. Diese koi-talen Steherqualitäten verdankte er, wie er später feststellte, jedoch nicht der Vorpubertät, sondern einem zweiten durch den frühen Mangel herbeigeführten Defekt: Wie ein Wagen ohne Bremse hörte er einfach nicht mehr auf - eine Eigenart, die seine 132 Geliebten sehr glücklich machte und ihn selbst relativ kalt ließ: Kann einem denn etwas fehlen, das man nie gehabt hat? Außerdem liebte er keine seiner Geliebten. Er verwechselte nie irgendetwas, das er fühlte, mit Liebe. (Nur eine Einzige hätte ihm wirklich etwas bedeuten können, aber eine problematische Geburt machte wahre Liebe unmöglich.) Was sollte er also erwarten?
    Vier Jahre lang besuchte er sie jeden Sonntagnachmittag - bis der Witwe einfiel, dass sie seiner Mutter vor dreißig Jahren Klavierunterricht gegeben hatte, und sie es nicht über sich brachte, ihm auch nur einen weiteren Brief zu zeigen -, doch diese erste Affäre war in Wirklichkeit keineswegs eine Liebesaffäre. Mein Großvater war nur ein gefügiger Passagier. Er hatte nichts dagegen, dass sein Arm (der einzige Körperteil, dem Rose wirkliche Aufmerksamkeit schenkte - der Akt selbst war nie mehr als ein Mittel zu dem Zweck, an diesen Arm heranzukommen) ein wöchentliches Geschenk an sie war und er und sie so taten, als liebten sie sich nicht in einem Himmelbett, sondern in einem Leuchtturm auf einem wind-umbrausten Kap, und als könnten ihre von dem starken Scheinwerfer weit übers Meer geworfenen Silhouetten ein Segen für Seeleute sein und Roses Mann zu ihr zurückbeordern. Er hatte nichts dagegen, dass sein toter Arm als das fehlende Glied diente, nach dem sich die Witwe so sehnte, für das sie vergilbte Briefe noch einmal las und außerhalb von sich, außerhalb ihres Lebens lebte. Für das sie einen zehnjährigen Jungen liebte. Der Arm war der Arm, und an diesen Arm - und nicht an ihren Mann oder gar an sich selbst -dachte sie sieben Jahre später, am 18. Juni 1941, als ihr Holzhaus unter der ersten Welle der deutschen Kriegsmaschinerie bis in die Grundfesten erbebte und ihre Augen sich nach hinten drehten, um vor dem Tod ihr Inneres zu betrachten.

    Da man vom wahren Wesen dieser Besuche nichts ahnte, bezahlte die Wankler-Gemeinde meinen Großvater dafür, dass er Roses Haus einmal pro Woche aufsuchte, und entlohnte ihn schließlich auch für ähnliche Dienste bei Witwen und ältlichen Damen in Trachimbrods Umgebung. Seine Eltern kannten die Wahrheit ebenfalls nicht, zeigten sich aber erleichtert angesichts des Enthusiasmus, mit dem ihr Sohn sich ins Geldverdienen stürzte und Zeit mit den Alten verbrachte, denn beides war während ihres langsamen Abstiegs in Armut und mittleres Alter zum Gegenstand zahlreicher persönlicher Überlegungen geworden.
    Wir dachten schon, du hättest vielleicht Zigeunerblut, sagte sein Vater einmal zu Safran, wozu der nur lächelte - seine übliche Reaktion auf den Vater.
    Das soll heißen, sagte seine Mutter - seine Mutter, die er mehr liebte als sich selbst - , dass es gut tut zu sehen, dass du deine Zeit für etwas Gutes einsetzt. Sie küsste ihn auf die Wange und fuhr ihm durchs Haar, wofür sein Vater sie zurechtwies, denn Safran war für so etwas inzwischen zu alt.
    Wer ist mein Baby?, fragte seine Mutter ihn, wenn sein Vater nicht in der Nähe war.
    Ich, sagte er dann, und er liebte die Frage wie die Antwort, und er liebte den Kuss, der zu der Antwort auf diese Frage gehörte. Du brauchst nicht weiterzusuchen - hier bin ich. Als fürchtete er das wirklich: dass sie eines Tages tatsächlich weitersuchen würde. Und aus diesem Grund, weil er wollte, dass sie zu ihm und nie irgendwo anders hinsah,

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