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Alles Land - Roman

Alles Land - Roman

Titel: Alles Land - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
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Gertraudtenbrücke zum Spittelmarkt, wo sie an den Kandelabern Abschlagen spielten und den Wagen der Pferdebahn
nachsahen. Sie liefen hinüber ans Cöllnische Ufer und träumten vor den Schaufenstern der Technischen Anstalt, vor den Rokokokerzen der Wachshandlung Hildebrand, vor den optischen Instrumenten der Lorgnettenfabrik, sie sahen die riesigen Buchstaben der Kompass-Werke im Himmel stehen und flanierten über den Mühlendamm wie feine Leute, immer zu zweit nebeneinander, Hand in Hand, damit im Gedränge niemand verloren ging. Wenn sie von ihren Ausflügen zurückkamen, rannten sie das letzte Stück um die Wette und setzten sich verschwitzt auf die Jungfernbrücke vorm Haus, wo sie bis zum Abendessen Steine ins Wasser warfen. Sie sahen den flachen Kähnen zu, die langsam durch die enge Durchfahrt unter ihren Füßen glitten.
     
    Manchmal trat eine einzelne, weiß verschleierte Gestalt zu ihnen auf die Brücke. Ein alter Hochzeitsbrauch verlangte, dass jede Braut der Gegend auf dem Weg zur Trauung hinüberlief zu ihrem Bräutigam, der am anderen Ufer mit den Gästen auf sie wartete. Blieb alles still, stand dem Jawort nichts im Wege. Knarrten dagegen die Bohlen, so gab es Grund, an ihrer Jungfräulichkeit zu zweifeln. Die Bohlen allerdings knarrten immer, die Hochzeitsgesellschaft brüllte vor Lachen, die Braut errötete unter ihrem Schleier, was sie noch zauberhafter aussehen ließ, der Bräutigam machte gute Miene, und alle zogen froher Dinge weiter zur Kirche.
    Die Geschwister blieben bis zur letzten Schleusung. Wenn eine Jolle herankam oder ein Boot mit höherem Aufbau, sprangen sie zu den riesigen Kurbelrädern der Brücke, über die die Zugketten liefen. Auf ein Kommando hin begannen vier von ihnen zu kurbeln wie Steuermänner
im Sturm, während die anderen sie anfeuerten. Die Ketten spannten sich rasselnd, langsam hob sich der Brückengrund, als täte die Erde sich auf, und teilte sich in zwei Hälften, die ruhig in die Höhe glitten. Wenn die Brücke offen stand, gaben die Kinder dem Schiffer die Durchfahrt frei und stellten sich nebeneinander an die niedrige Brüstung wie Matrosen an der Reling, die Hände am Mützenspiegel zum Gruß. Nur die Brüder an den Kurbeln hielten die Hände ruhig auf ihren Steuerrädern und blickten in die Ferne, als wären sie auf großer Fahrt.
    Der Auftritt verfehlte nie seine Wirkung. Der Letzte in der Reihe kletterte rasch über das Geländer hinunter zum Schiff und nahm das Brückengeld entgegen.

    Mit den Jahren wurden die Geschwister weniger. Am Tag nach Alfreds sechstem Geburtstag begruben sie Käte, die sich von einer Lungenentzündung nicht erholt hatte. Willi starb im darauffolgenden Frühjahr, als er beim Schlittschuhlaufen auf dem Kanal vor dem Haus einbrach und nicht wieder auftauchte. Er musste unter dem Eis abgetrieben sein. Als man abends die Suche längst eingestellt hatte, saß Alfred noch immer am Ufer und wartete darauf, dass alles nur ein Streich gewesen war. Er glaubte, Willis Trommelschläge vom Jahreswechsel wieder zu hören. Nachts bekam er den Anblick des schwarzen Wasserlochs nicht mehr aus dem Kopf. Sein Vater setzte sich an sein Bett und riet ihm, das Bild zu vergessen. Willi sei jetzt im Herrn. Dabei wusste Alfred ja, dass er im Kanal war.

    Er fragte: »Wohin führt der Graben?«
    »In die Spree.«
    »Und weiter?«
    »In die Havel.«
    »Und die Havel?«
    »Fließt in die Elbe.«
    »Wo endet die?«
    »In der Nordsee«, sagte der Vater.
    Von einer Nordsee hatte Alfred noch nie gehört.
     
    Am offenen Sarg las der Vater aus der Genesis vor: »Steht dir nicht alles Land offen? Scheide dich doch von mir.« Alfred war froh, nicht über den Rand in den leeren Sarg schauen zu können.
    Bei der Beerdigung ging er an der Hand seiner Mutter. In einem großen Kreis standen sie am frisch ausgehobenen Grab, die ganze Familie mit allen Kindern des Waisenhauses, und keiner sagte ein Wort. Anfang April, ihre guten Schuhe vom Schlamm bespritzt. Dann trat Alfred vor, griff in die Tasche seines Anzugs, kniete am Rand der Grube nieder und legte dem Bruder seine Schneekugel auf den Sarg.
    Zurück bei der Mutter, vergrub er seinen Kopf in ihrem Schoß. Sie strich ihm über den Scheitel, aber er konnte nicht aufhören zu weinen. Sie erinnerte ihn daran, wie fröhlich Willi gewesen sei, es ließ ihn nur lauter heulen. Am Ende sagte sie: »Das Leben ist ein Kunstwerk Gottes. Niemand kann voraussagen, ob es glücken wird oder misslingt. Es bleibt uns nichts anderes, als

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