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Alles Land - Roman

Alles Land - Roman

Titel: Alles Land - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
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Seiten. Alfred war noch niemals nachts auf der Straße gewesen, ohne die Eltern. Beim Aufbruch hatte er mit einem Mal nicht mehr mitgewollt, aber die Geschwister gaben sich den Anschein, sie würden so etwas jeden Abend erleben. Also war er mit den anderen, in die steifen Mäntel, Shawls und Fellhandschuhe gepackt, vor die Tür getreten, und Alfred hatte Sterne am Himmel gesehen, die unbeweglich zwischen den eilig ziehenden Wolken standen. Das Wasser im Schleusengraben war gefroren, das Eis von Schnee bedeckt. Der Vater sagte, es werde ein schönes Neujahr geben, und Alfred wunderte sich einmal mehr, was sein Vater alles wusste. Der Vater würde am Morgen in der Aula die Predigt halten, über Matthäus 7, Vers 7, das hatte ihm die Mutter geflüstert, weil es Alfreds Taufspruch war. Bittet, so wird euch gegeben, suchet, so werdet ihr finden, klopfet an, so wird euch aufgetan . Alle Kinder aus dem Waisenhaus würden da sein und zuhören, und am Ende blieben sicherlich wieder einige einfach in den Bänken sitzen, weil sie gar nicht zurückwollten auf ihre Stube, fort von den schönen Worten.
     
    Von der Mutter hatten sie sich Bratpfannen und Deckel geben lassen, die sie nun gegeneinanderschlugen, um den Radau zu machen, der zum letzten Tag des Jahres gehörte.
Alfred versuchte sich die Ohren zuzuhalten, was ihm nicht gelang. Kaum dass sie über der Brücke waren, hatte Willi ihm eine gusseiserne Kasserolle über den Kopf gezogen, die er nun mit regelmäßigen Schlägen eines Kochlöffels bearbeitete. Alfred bemühte sich, darunter hervorzulächeln, es war das erste Mal, dass er dabei sein durfte. Seine Aufgabe war es, in der Nähe des hellen Tons zu bleiben, bei den leeren Sodaflaschen, die Käte gegeneinanderschlug, sie lief ganz vorn. In der Hand hielt Alfred die große Milchkanne aus Blech, und wenn Willi eine Pause machte, hieb Alfred mit einem Rührstab gegen das Metall, ein dumpfer Klang, und für einen Moment war nichts anderes zu hören als seine Schläge und ihr leiseres Echo von den Häusern der anderen Straßenseite.
    In der Dunkelheit unter seinem Topf versuchte Alfred sich vorzustellen, wo sie entlanggingen. Anfangs fiel es ihm leicht, ihren Weg zu verfolgen, aus dem Haus und am Ufer entlang, beim Bäcker vorbei, bei dem es selbst in der Nacht nach Teig roch. Dann wurde ihm schwindelig von all dem Lärm, und er hatte genug damit zu tun, achtzugeben, aus welcher Richtung das Klingeln der Sodaflaschen kam. Einmal meinte er, die Geräusche vom Wirtshaus zu erkennen, aber hätten sie dahinter nicht die Gertraudtenstraße kreuzen müssen? Tatsächlich, schon fühlte er unter den Sohlen die Bürgersteigkante, und da waren die Geleise der Pferdebahn. Kein Wagen war unterwegs. Nun müssten sie beim Molkereiladen sein, zu dem ihn die Mutter morgens mit der Kanne schickte, Alfred stellte sich vor, wie finster die Scheiben jetzt waren, die morgens so milchweiß glänzten.
    Ihm wurden die Finger kalt, er nahm Kanne und Schlegel in die eine Hand und steckte die andere in die Tasche
des Mantels. Zu seinen Füßen war der Schnee zu erkennen, über den sie liefen. Wenn sie unter einer der Gaslaternen vorbeikamen, strahlte es heller und sah noch kälter aus. Die Schneekristalle glitzerten wie lauter winzige Sterne. Es kam ihm vor, als würde Willi immer kräftiger schlagen, in den Pausen zwischen den Schlägen wurde es kaum leiser in seinem Kopf. Auf einmal sah Alfred Flecken vor der schwarzen Wand der Kasserolle, als liefe er durch einen nächtlichen Schneesturm, ganz allein. Er hörte nichts mehr vor lauter Lärm, ihm liefen Tränen über die Wangen, aber er konnte sie ja nicht abwischen. Am Ende setzte er sich einfach auf den Boden, die anderen zogen ihm den Topf vom Kopf und rieben ihm so lange das Gesicht mit Schnee ein, bis alles wieder gut war.

    Vor dem Haus lag der Schleusengraben, an dem spielten sie, wann immer das Wetter es erlaubte. Am Ufer schauten die Pfosten aus dem Wasser heraus wie verlorene Seelen. Die Pfähle trugen Haarschöpfe aus Gras, an denen man sie unterscheiden konnte, den Stutzer, das Fräulein, den Veteranen, die Elfe. Mittags hängten die Angler ihre Kescher zum Trocknen darüber, dann bekam das Fräulein einen Schleier, und die Elfe sah aus wie ein gefangenes Tier.
    Meist blieben sie am Unterwasser vor dem Haus, zwischen Jungfernbrücke und Grüner Straße. Nur wenn sie nicht gesehen werden wollten, zogen die Kinder hinauf zum Oberwasser oder balancierten über die eisernen Ausleger der

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