Alles Land - Roman
seine Werke zu betrachten und uns zu freuen, wenn sie ihm gut geraten.«
Alfred hörte auf zu weinen. Dort, das Gesicht im schwarzen Kleid seiner Mutter verborgen, fasste er den Plan, sein Leben gelingen zu lassen. Er wollte Gott keine weitere Enttäuschung zufügen.
So festlich es sonntags bei ihnen war, so streng ging es an den Sonnabenden zu. Das seien, sagte Kurt einmal, keine Tage, das seien nichts als Vorbereitungen auf den Sonntag. Gleich morgens nach dem Aufstehen mussten die Kinder ihre Betten neu beziehen. Und auch wenn sie wussten, wie kühl und fest sich ihre Kissen am Abend anfühlen würden, schimpften sie morgens beim Versuch, die kratzigen Decken in die Leinenbezüge zu bekommen. Anschließend fegten und schrubbten sie die Bettenstube, manchmal täuschte Alfred Husten vor und durfte währenddessen die heruntergebrannten Kerzen erneuern.
Am Vormittag wusch jeder seine Wäsche und anschließend sich selbst. Sie stiegen zu zweit in die heiße Wanne und schrubbten einander den Rücken mit einer Bürste, bis die Haut rot glänzte vor Sauberkeit. Wenn alle gebadet waren, stellten die Kinder sich, in ihre Handtücher gewickelt, in einer langen Reihe vor der Mutter auf. Noch immer hing die Waschstube voller Dampf, eine feuchte Wolke, die sie satt und schwer umgab wie der Heilige Geist. Ein Kind nach dem anderen hob Anna Wegener auf ihren Schoß, um ihm die Nägel zu schneiden. Mit der Linken umfasste sie Finger oder Zehen, mit der Rechten führte sie ihre silberne Schere. Sie ließ sich Zeit damit.
Während des Schneidens erzählte die Mutter Geschichten. Meist waren es Bilder aus den Testamenten, die sie für ihre Kinder veränderte, ausschmückte und neu verband. In ihrem Evangelium gab es zur Speisung der fünftausend nicht nur Brot und Fisch, sondern auch Huhn, Kartoffeln und Kekse. Immer neue Gerichte wünschten die Kinder sich von Jesus, und ihre Mutter sorgte dafür, dass jedes einzelne davon auf den Tisch kam. Ihre Vertreibung der Wechsler aus dem Tempel führte zu einer gewaltigen Prügelei, und das Gleichnis vom Senfkorn endete mit einer Bratwurst.
An einem dieser Sonnabende, als die Reihe des Nägelschneidens gerade an Alfred kam, erzählte Anna Wegener von der Schöpfung. Alfred kletterte auf den Schoß seiner Mutter und lehnte sich in ihre Armbeuge. Sie nahm seine linke Hand, fuhr mit der Schere unter den Rand des Daumennagels und zog sie langsam hinüber zur anderen Seite. Die Klinge verwandelte die Schwärze und ließ nichts als einen hellen Nagelstreifen zurück. Ein Finger nach dem anderen kam an die Reihe, während die Mutter von Licht und Finsternis erzählte und wie der Herr sie voneinander schied. Wie er den Himmel von der Erde trennte und das feste Land vom Wasser. Die Schöpfung schien eine einzige Geschichte von Trennungen zu sein. Jetzt stach die Mutter mit der Spitze der Schere ins Nagelbett und pickte nach den dunklen Stücken, die sie noch nicht erwischt hatte. Alfred presste die Lippen aufeinander. Kurt, der als Nächster in der Reihe wartete, fragte: »Woher sind Gott all die Einfälle gekommen für seine Schöpfung? Er hat doch nur sieben Tage Zeit gehabt. Auf Sonne und Mond wäre ich wohl auch gekommen, aber es gibt ja noch die Gräser und Kräuter, die Vögel, all die wilden Tiere und
die Walfische.« Und die Menschen, ergänzte Alfred im Stillen.
Seine Mutter war jetzt mit seinen Füßen zugange, wo die Nägel dicker waren. »Ich verrate euch«, sagte sie, »ein Geheimnis. Gott hatte einen Plan. Da hat alles schon gestanden, in jeder Einzelheit. Deshalb ist er so schnell gewesen mit seiner Arbeit.« Sie nahm Alfreds letzten Zeh und schnitt ganz langsam einen halbmondförmigen Streifen des Nagels herunter. Als sie damit fertig war, griff sie sich das Stück und schnippte es in die Waschschüssel zu ihren Füßen.
»Und wo ist dieser Plan jetzt?«, fragte Alfred leise. Die Mutter überlegte einen Moment. »Er hat ihn zerrissen, als er ihn nicht mehr brauchte. Am Sonntagnachmittag, nachdem er fertig war, hat er ihn zerrissen und weggeworfen.«
»Und wo sind die Stücke?«, fragte Kurt.
»Das wissen wir nicht«, sagte die Mutter. »Über die Welt verstreut.«
Man müsste sie einsammeln, dachte Alfred. Man müsste sie aneinanderhalten und schauen, ob sie zusammenpassen. Und wenn sie passten, könnte man sehen, ob ihm der Plan gelungen war.
Von hinten fragte einer der Waisenknaben, ob das eine wahre Geschichte sei. Die Mutter ließ Alfred von ihren Knien herunter.
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