Alles Land - Roman
stand offen. Die Mutter ließ sie geöffnet, um zu hören, wenn er schrie. Alfred sah, wie der Zug der Ameisen im Schatten des Türrahmens weiterlief und sich erst in der Ferne verlor, eine krabbelige Linie. Aus den Augenwinkeln sah er, dass die Blicke seiner Großeltern ihm folgten. Es würde ihnen nicht gelingen, ihn aufzuhalten.
Hinaus auf den Flur ging es wie von selbst. Die Streben des Treppengeländers waren schmal, Alfred robbte sich an den oberen Absatz heran.
Die ersten Stufen überwand er kopfüber, seinen Fall abwechselnd mit Stirn, Nase und Kinn bremsend. Er überschlug sich, die Windel dämpfte seinen Aufprall. So blieb er für einen Moment liegen. Dann ließ er sich Stufe für Stufe hinab.
Er wusste nicht, was ihn am Ende seiner Reise erwartete. Niemals war er auch nur annähernd so wach gewesen
wie jetzt. Auf den Rändern der Stufen lag eine Schicht aus Staub, die verschwand, wenn man darüberstrich.
Am Fuß der Treppe fand er die Ameisen wieder. Ihre Spur zog sich über den Steinfußboden, er hatte nun keine Mühe mehr, ihnen zu folgen. Erst am Ende der Diele stieß Alfred auf eine Tür, die weiß war. Er drückte sich dagegen, aber sie ließ sich nicht öffnen. Nur die Ameisen zwängten sich durch eine Ritze unter der Fußleiste.
Alfed sah sie verschwinden, und auf einmal überwältigte ihn ein Sturm aus Unglück, Kälte und Hunger. Er drängte sich an die Ritze, als könnte er sich daran wärmen.
Tony fand ihn, seine größere Schwester, als sie vor den anderen von der Schule heimkam. Niemand konnte sich erklären, wie es ihm gelungen war, dorthin zu gelangen. Von nun an blieb, wenn die Mutter ihn zur Ruhe legte, die Tür verschlossen.
Einen ganzen Sommernachmittag über saß Alfred neben Käte im Garten, jeder mit einem Halbschuh im Schoß, und seine Schwester zeigte ihm, wie man eine Schleife band. Es war ganz still im Garten. Sie hatten Zeitungspapier unter die Sohlen gelegt, um sich die Kleidung nicht schmutzig zu machen. Alfred sah auf seine Hände hinab, zwischen denen sich die dünnen Schnürsenkel wanden. Seine Finger nahmen das eine Ende und legten es zu einer Schlaufe, umwickelten sie mit dem anderen Band, doch bevor es ihnen gelang, eine weitere Schlaufe zu legen, entglitt ihnen die erste schon. Alfred sah seinen kurzen, groben Fingern zu. Er wusste genau, was sie hätten tun müssen,
aber sie taten es einfach nicht. Immer wieder begann er von vorne, mit zusammengepressten Lippen, bis ihm am Ende die Finger zu zittern begannen. Am liebsten hätte er sie sich abgeschnitten.
Die Schwester lachte, als er seinen Schuh auf den Rasen warf. Sie zeigte es ihm noch einmal in aller Ruhe, und Alfred machte einen neuen Versuch. Er merkte nicht einmal, dass Käte weiter lachte, über ihn, weil ihm vor Anstrengung die Zunge aus dem Mund heraushing. Bei jeder Bewegung seiner Finger sprang sie hin und her, er konnte sich nicht dagegen wehren. »Eher wirst du dir einen Knoten in die Zunge machen als in dein Bändel«, sagte Käte. Am frühen Abend endlich gelang ihm die erste Schleife, da war seine Schwester längst ins Haus gegangen. Alfred wiederholte das neue Spiel, bis seine Mutter kam und ihn zum Essen holte.
Anna Wegeners Sorge galt vor allem ihren drei jüngsten Kindern. Im Jahresabstand geboren, waren sie weniger kräftig als die älteren, und die Mutter fürchtete um ihre Gesundheit. Im Garten wuchs Holunder, aus den Beeren kochte sie einen schwarzen Sirup, der bitter war, aber gegen die Erkältungen helfen sollte, an denen Käte, Kurt und Alfred während der Hälfte des Jahres litten. Sie kochte süße Grießknödel und übergoss sie mit dem Sirup, damit sie ihn aßen. Sie kaufte Lebertran und erzählte ihnen Geschichten über den Wal, von dem der Tran stammte. Wenn sie zu der Stelle kam, an der die Fänger ihre Harpunen nach ihm schleuderten, steckte sie jedem ihrer Kinder nacheinander einen vollen Löffel in den Mund. Dazu schilderte sie, wie der Wal ein letztes Mal zu tauchen versuchte. Fast wäre
das Schiff unter Wasser geraten. Die Kinder schluckten die Medizin ohne Gegenwehr.
Abends, wenn Alfred und seine Geschwister schliefen, lag Anna Wegener auf dem Kanapee und aß von dem Quittenbrot, das sie in großer Menge selber zubereitete. Die anderen Familienmitglieder verzogen den Mund, wenn sie die Schale auf den Tisch stellte, weil es ihr immer ein wenig bitter geriet, dabei brauchte es nichts als eine Prise Puderzucker. Dazu las sie die Schriften des Pfarrers Sebastian Anton
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